Auf Spurensuche

Es ist die beliebteste Fernsehserie unserer Zeit: »Tatort«. Jeden Sonntag sind die Wohnzimmer, Twitterfeeds und Szene-Kinos voll mit einer Krimi-Reihe, die seit 45 Jahren läuft. Warum ist das so?

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Hamburg, Istanbul, Moskau, Berlin. Til Schweiger jagt das Böse durch halb Europa. Explosionen, Verfolgungsjagden. Hollywood lässt grüßen und Michael Bay steht Pate. Es soll »starke Emotionen und humorvolle Brüche« geben. »Tatort«, das seit 1970 in Deutschland und einem Jahr später in Österreich an jedem verdammten Sonntag Millionen von Fernsehzusehern an die Geräte lockt, kommt ins Kino. Für die Hauptrolle kam mit Wutbürger Schweiger nur einer in Frage. Einer, dessen Besetzung stellvertretend dafür steht, dass Krimis im Fernsehen nur scheinbar eingeschlafen sind, sich aber in Wirklichkeit riesiger Beliebtheit erfreuen.

Tatort: Kino. Tatort: Wohnzimmer

Szenenwechsel. Beliebige Großstadt im deutschen Sprachraum, Sonntag, kurz vor 20.15 Uhr. Vor alten Arthouse-Kinos in den Szenebezirken und auf Balkonen von WGs in Gegenden, wo die Gentrifizierung blüht, drücken die letzten ihre Zigaretten aus. Man kennt sich, sieht sich jeden Sonntag. Viele Lichtspielhäuser zeigen die brandneuen, immer gleichen Abenteuer der insgesamt 21 Kommissar-Teams bei freiem Eintritt. Bier, Wein und Wahrheitskraut dürfen mitgebracht werden, es gibt aber auch spezielle Menü- und Getränkekarten. Es geht nicht um Umsatz, sondern ums Wiederkommen, ums gemeinsam erleben, das miteinander Detektivsein.

Die Einschaltquoten sind dementsprechend hoch. Je nach Beliebtheit der Ermittlerteams sehen im Schnitt bis zu 13,2 Millionen alleine in Deutschland zu, in Österreich sind es – vor allem bei den Fällen der Wiener Kommissare – auch bis zu über einer Million, die sich gegen den US-amerikanischen Blockbuster auf ORF1 entscheiden. Einschaltquoten, die sonst nur Fußballländerspiele oder »extrem wichtige« Ski-Abfahrtsrennen erreichen. Genau diese Sportevents sorgten schon lange dafür, dass wir nicht mehr in den eigenen vier Wänden fernsehen. Auch »Tatort« schaut man jetzt häufig öffentlich. Der ARD ist das durchaus sehr recht, viele Wirte werden sogar mit offiziellem Merchandising und Marketinginstrumenten unterstützt.

Tatort: Twitter

An jedem verdammten Sonntag. Twitter, sonst oft die Blase der Elitären, quillt über. Von einigen witzigen bis nüchternen Livetickern über allzu vorschnell getroffene Verdächtigungen bis hin zu – und das sehr ausgiebig – Kritik am Sender, den Schauspielern, an allem. #tatort ist Woche für Woche unter den Top-5-Hashtags des Sonntags, der offizielle Account zählt fast 160.000 Abonnenten, das Community-Management ist bei der Ausstrahlung live, unmittelbar und oft lustiger als der user-generated Content. Ähnlich wie bei Sport-Liveticker von Der Standard nimmt der Spaß mit dem Mitlesen auf Twitter zu. »Tatort« schafft es so, ein Gefühl zu erzeugen, das selten geworden ist. Man schaut gemeinsam. Der Second Screen wird zum riesigen Stammtisch für die Zuhausebleiber. Früher war mit zwei staatlichen Sendern das Gesprächsthema im Büro und in der Schule klar. Mit 117 Sendern und Serien, die jederzeit gestreamt werden können, sind kollektive Medienerlebnisse heute rar. Ereignisse wie der wöchentliche »Tatort« werden da umso dankbarer.

Die ARD hat vor allem für »Tatort« einen »Teletweet« entwickelt, der die originellsten Beiträge unter dem #tatort als Untertitel direkt in das Fernsehbild einbindet. Ein zusätzlicher Motivationsschub, aktiv und kreativ an der Debatte am Second Screen teilzunehmen. Selbst bei den sonst so vorbildlich um eigene Hashtags für jede Serie bemühten US-amerikanischen Produktionen klappt die Zuseher-Einbindung nicht so gut wie hier. Hohe Einschaltquoten und hohes Engagement im Netz bedingen sich gegenseitig.

Tatort: Medien

Auch die mediale Coverage ist enorm. Sämtliche deutsche Qualitätszeitungen – und mit großen Abstrichen auch wenige österreichische – bieten bereits wenige Stunden nach Ausstrahlung mitunter simultan geschriebene Abhandlungen, Kritiken und – besonders beliebt und lesenswert – Faktenchecks. Manche greifen die sozialkritischen Grundaussagen des Films auf oder informieren, wann es einen ähnlichen Fall gab, darüber, wie es Eltern wirklich geht, deren Kind vermisst wird. Für die wenigen, die sonntags keine Zeit hatten, werden Twitter-Nachlesen angeboten. Auch Buzzfeed International berichtete kürzlich über »Tatort« und ließ US-Amerikaner flapsig die Sendung sehen.

Tatort: Deine Region

Auch die vielen Schauplätze sind ein Garant für die Beliebtheit von »Tatort«. Der ORF zeigt nicht umsonst »Landkrimis« aus einzelnen Bundesländern, die dort besonders hohe Quoten erreichen. Der »Brenner« bereist wie James Bond die Städte und Dörfer des Landes. In einer globalisierten Welt fühlt man sich damit nicht mehr so alleine. Auch »Tatort« hat seit Jahrzehnten dasselbe Konzept, manche Kommissare polieren manchmal sogar das Image einer Stadt auf. So bietet etwa Münster, wo der beliebteste, aber auch meist kritisierte »Tatort« spielt, eigene Stadtführungen für »Tatort«-Fans an. Die insgesamt 21 Teams – darunter auch 12 Frauen – sind schön auf das gesamte deutschsprachige Gebiet aufgeteilt. In Österreich waren Harald Krassnitzer und Adele Neuhauser Quotenkönige. Sie waren 2014 die Protagonisten der mit Abstand meist gesehenen Spiel- oder TV-Filme des Jahres.

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Bild(er) © Warner
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