Wer selbst schreibt, kennt das Gefühl, dass einem jedes irrelevante Detail als höchst wichtig erscheint. Was aber, wenn ein junges Schreibgenie genau solch minutiöse Schilderung benutzt, vielleicht nur, um seine Leser langsam in den Wahnsinn zu treiben?
In seltsamer Einigkeit krönte der Literaturbetrieb Clemens J. Setz spätestens nach seinem 2012 erschienen Roman »Indigo« zum Junggenie. Der 32-jährige Grazer, der öffentlich bescheiden, ja beinahe socially awkward auftritt, entspricht dem Anforderungsprofil dafür perfekt. Er ist ein außergewöhnlicher, leicht rätselhafter Charakter, kein Angeber, kein One-Hit-Wonder. Nein, er hat sich Buch um Buch weiter nach oben geschrieben und schließlich bisher zumindest zwei außergewöhnlich gute Werke präsentiert. »Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes« und »Indigo« schmerzen beim Lesen, lassen Verwirrung und Unbehagen zurück und gleichzeitig sind sie genau das, was man sich in einer Zeit literarischer Überproduktion wünscht: Bücher, die irgendetwas mit einem machen, die man nicht so schnell wieder vergisst.
Wer davon einmal gekostet hat, wartet seit 2012 auf den neuen Roman, findet sich unschlüssig und beinahe verzweifelt in Buchhandlungen stehend und dort lächerliche Substis für den immer noch nicht fertigen neuen Setz kaufen. Der Suhrkamp Verlag weiß mit dieser Erwartung auch zu spielen. Schon lange gibt es Geflüster über den neuen Roman und seinen bedeutenden Umfang und dann kommt erst ein Gedichtband und dann dieses seltsame Bändchen »Glücklich wie Blei im Getreide« heraus. Die sadistischeren unter den Buchhändlern, denen das Drama der Existenz eines Setz-Angefixten nicht oder aber absolut klar ist, sagen zu ihren Kunden: »Es gibt was Neues vom Setz«. Und eines ums andere Mal ist es nicht der so schmerzlich erwartete Roman.
1.000 Seiten Setz
Nun ist »Die Stunde zwischen Frau und Gitarre« endlich da und hat wie versprochen 1.000 Seiten. Es wird ein monumentales Werk genannt werden, das ist schon klar. Vergleiche mit den ganz Großen der Weltliteratur werden sich in der einen oder anderen Rezension finden und die ganze Branche wird sich daran aufgeilen, dass sie es immer schon gewusst hat: Clemens J. Setz ist ein Genie. Ein Gedankenexperiment: Was, wenn der neue Roman nichts Anderes als eine ziemlich aufwendige Trollerei ist? Bei den jährlich im Museumsquartier stattfindenden Freiluftlesungen »O-Töne« tritt Setz im Juli 2015 mit »Glücklich wie Blei im Getreide« auf. Darin finden sich selbstironische Nacherzählungen seiner ersten und eher missglückten Schreibversuche, die ihm zu peinlich sind, als dass er sie im Original abdrucken lassen würde. Allerdings aber auch nicht peinlich genug, um so ein Buch überhaupt nicht zu machen.
An seiner Seite sitzt der angesehene Literaturkritiker Paul Jandl und vergleicht eine der Geschichten mit Kafka. Setz und auch das mäßig beeindruckte, aber höfliche Publikum weichen seinem Blick aus. Die Geschichten sind absurd und auf eine Weise zwangsoriginell, die man kaum aushält. Kurz darauf erklärt sich der Autor bereit, auch den Anfang des neuen Romans zu lesen, der sich eins zu eins zu den Nacherzählungen des Scheiterns gesellen könnte, ohne dass es irgendjemandem auffallen würde. Ein bisschen stellt man sich vor, dass es nur ein Test ist und dass Setz, innerlich diabolisch lachend, nur ausprobiert, wie weit er gehen kann, bevor ihm der Geniestatus wieder aberkannt wird.
Sein Jahr in der Junggenie-Bucht
Immerhin sind es 1.000 Seiten, gefüllt mit minutiösen, manchmal fast Echtzeit-Beobachtungen in einem Wohnheim für Menschen mit Behinderungen, wie jenes in dem Setz für die Recherche ein Jahr lang ein- und ausging. Irrlichterne Geschöpfe faseln sich darin groben Nonsens ins Ohr und die vielen außergewöhnlichen Vergleiche, die man von Setz schon gewohnt ist, häufen sich in einer Art, die einen etwa gegen Seite 300 um Gnade winseln lassen möchte. Dem Anfang fehlt die Dichte, die er in »Indigo« so meisterhaft kreiert hat. Wäre er nicht das gefeierte Junggenie, so würde man sich vielleicht nicht über die ersten paar hundert Seiten kämpfen.