Barbara Albert bringt Julia Francks Bestseller »Die Mittagsfrau« auf die große Leinwand. Ein Gespräch über Historienfilme, Mutterschaft und den Umgang mit der eigenen Vergangenheit.
Es ist eine Geschichte über das Verstummen, die Julia Franck 2007 in ihrem Roman »Die Mittagsfrau« erzählt. Helene (in Barbara Alberts Film dargestellt von Mala Emde) lebt als Tochter einer Jüdin und eines protestantischen Vaters im Deutschland der 1920er-Jahre. Sie will Medizin studieren, ist glücklich mit ihrer ersten großen Liebe Karl (Thomas Prenn) und liebt Literatur. Doch die Nazis gewinnen an Einfluss und Helenes Leben sowie Identität sind in Gefahr. Sie geht eine Zweckehe mit Wilhelm (Max von der Groeben) ein, nimmt den Namen Alice an, erlebt Gewalt, wird schwanger. »Die Mittagsfrau« erzählt von einer Frau, die nicht mehr sie selbst sein darf, und auch vom Judentum, von jüdischer Kultur, die ausgelöscht wurde. Es ist eine Geschichte über das Suchen und Verlieren der eigenen Identität, über Mutterschaft und über individuelle wie kollektive Traumata – und darüber, wie mit diesen umgegangen werden sollte.
Nach »Licht« ist »Die Mittagsfrau« der zweite Historienfilm, den Barbara Albert gedreht hat. Die Regisseurin und Drehbuchautorin machte erstmals mit »Nordrand« auf sich aufmerksam – ein Film, der das österreichischen Kino prägte und den Grundstein für Barbara Alberts Karriere legte. Gemeinsam mit Jessica Hausner, Antonin Svoboda und Martin Gschlacht gründete sie die Filmproduktionsgesellschaft Coop 99. Mittlerweile lebt Albert mit ihrer Familie in Berlin. The Gap trifft sie jedoch in Wien, ganz klassisch im Kaffeehaus. Sie bestellt Kaffee mit Schlagobers, so etwas gebe es in Berlin nämlich nicht, – und sie hat viel zu erzählen.
»Die Mittagsfrau« ist ein sehr erfolgreicher Roman der Autorin Julia Franck. Wie kam es zu dem Entschluss, diesen auf die große Leinwand zu bringen?
Barbara Albert: Ich las den Roman 2014, weil mich Meike Hauck, eine befreundete Drehbuchautorin, darauf aufmerksam gemacht hatte. Sie meinte, sie wolle sehr gerne das Drehbuch dazu schreiben, und auch mir war schnell klar: Das muss ein Film werden. Ich schrieb Julia Franck eine lange Mail und erzählte ihr von meiner Begeisterung. Recht schnell wussten wir drei, dass wir den Film gemeinsam machen wollen – nur die Suche nach einer Produzentin zog sich in die Länge. Man muss an dieser Stelle auch sagen, dass ich 2014 noch nicht einmal meinen ersten historischen Film »Licht« veröffentlicht hatte. »Die Mittagsfrau« hat also eine lange Entstehungsgeschichte. Die Finanzierung hat sehr lange gebraucht, obwohl das Buch so erfolgreich war. Ich denke, das hatte zwei Gründe: 2014 war das Buch nicht mehr ganz frisch draußen und zudem war es vor neun Jahren nicht so leicht für reine Frauenteams, so viel Fördergeld zu erhalten.
Literaturverfilmungen werden immer beliebter. Welche Herausforderungen ergeben sich dadurch für Regisseur*innen? Wie wird man dem bereits vorhandenen Stoff gerecht? Und wie schafft man es zugleich, seinen eigenen Fingerabdruck zu hinterlassen?
Für mich war es fast eine Befreiung, dass ich »nur« Regisseurin sein durfte. Ich schreibe und produziere zwar wahnsinnig gerne, aber wenn ich alle drei Bereiche in einem Projekt vereine, bin ich wirklich für alle drei Ebenen verantwortlich und kann die Bereiche schlecht trennen. Dann bin ich vielleicht zu lange die Drehbuchautorin und komme noch nicht ganz in die Regie hinein. Beim Regieführen geht es darum, auf welche Art und Weise der Film umgesetzt wird. Wenn ich mich ganz darauf konzentrieren darf, kann ich besser verstehen, wer ich als Regisseurin bin. Aber grundsätzlich schreibe ich auch selbst gerne.
»Die Mittagsfrau« greift Julia Francks Familiengeschichte auf. Inwiefern hat sie selbst den Film unterstützt?
Sie war extrem unterstützend, hatte Lust auf das Projekt und hat uns sehr vertraut. Sie sah auch eine Rohfassung, war ein wenig in den Schnitt involviert und wir beide haben über das Ende des Films diskutiert. Sie hat dann aber auch losgelassen, denn ein Film ist eben ein eigenes Werk. Sie kann das mittlerweile gut trennen, da sie bereits Erfahrungen mit Verfilmungen ihrer Werke hat, so wurde etwa ihr Roman »Lagerfeuer« verfilmt (unter dem Namen »Westen«, von Christian Schwochow und mit Jördis Triebel in der Hauptrolle; Anm. d. Red.). »Die Mittagsfrau« ist auf jeden Fall eine ganz besondere Geschichte für sie, weil der Plot ihrer Familiengeschichte entnommen ist.
Der Film spielt im Deutschland des 20. Jahrhunderts. Welche Herausforderungen ergeben sich bei diesem historischen Setting?
Das ist wirklich nicht leicht, weil es viele Elemente zu beachten gibt: Das beginnt beim Gesicht der Hauptdarstellerin. Gerade Mala Emdes Gesicht finde ich nicht nur ausdrucksstark und wandelbar, sondern auch zeitlos. Ihr Gesicht kann modern sein oder nicht, es kann alles sein. Zumindest ist das mein Eindruck. Die Besetzung spielt also schon mal eine große Rolle. Meine Strategie ist es nicht, möglichst moderne Kleidung oder Make-up bei so einem Film zu verwenden. Wichtig ist, sich zu fragen, was die damalige Zeit über unsere heutige aussagen kann – und wie man das filmisch übertragen kann. Mir war es auch total wichtig, Homosexualität als eine Möglichkeit der Sexualität zu zeigen, die von meinen Figuren nicht verachtet wird. Auch die Unterdrückung des weiblichen Körpers ist leider ein aktuelles Thema. Es ist eigentlich grausam zu sehen, wie ähnlich die 1920er-Jahre unserer heutigen Zeit sind. Damals wie heute gab bzw. gibt es ein Gefühl von vermeintlicher Freiheit: Man hat das Gefühl, dass alles möglich sei, und es lösen sich etwa die Geschlechter immer mehr auf. Dieses Spiel mit den Geschlechtern gab es bereits im 20. Jahrhundert, aber es wurde von den Nazis total zerstört. Man kann das natürlich nicht eins zu eins gleichsetzen, aber aktuell gibt es Tendenzen, die dem ähnlich sind, so wird etwa Antisemitismus offener gezeigt und/oder verharmlost. Das finde ich erschreckend. Ich hoffe, dass der Film auch durch seinen Rhythmus und seine Bildsprache diese Themen in die moderne Zeit bringt.
»Die Mittagsfrau« thematisiert die Weimarer Republik ebenso wie die Zeit des Zweiten Weltkriegs in Deutschland. In Kritiken zu »Die Mittagsfrau« wurde dem Roman damals ein distanzierter Erzählstil sowie plastische Bilder und Szenen bescheinigt. Was war dir bei der Figur der Helene wichtig?
Das Buch ist – im Gegensatz zum Film – die Geschichte einer depressiven Frau. Das ist bei uns nicht der Fall. Wir wollten eine Helene zeigen, die sich selbst ermächtigt. Der Roman fokussiert mehr auf Depression und Trauer, auf das Verstummen. Das hat mich beim Lesen so begeistert, ich war sehr nahe an der Figur dran, fand sie nicht distanziert beschrieben. Ich denke, dass dieser Tabubruch der Mutter, die ihr Kind verlässt, damals stark thematisiert wurde. Als Mutter ist es für mich auch aufwühlend, so etwas zu lesen, zugleich muss man sich fragen: Wieso kann Helene ihr Kind nicht lieben? Dafür gibt es Gründe wie Gewalt und Unterdrückung, die Helene selbst erlebt. Ich fand die Körperlichkeit in der Geschichte so faszinierend: Helenes Körper wehrt sich von Anfang an, ein Kind haben zu müssen.
»Die Mittagsfrau« wurde 2007 veröffentlicht und stellte ein Mutterbild dar, das stark kritisiert wurde. In den letzten Jahren gab es vermehrt Debatten über Mutterschaft und Care-Arbeit – etwa unter dem Hashtag #RegrettingMotherhood. Inwiefern ist die Geschichte Helenes, die ihr Kind verlässt, eine, die auch heute noch polarisiert? Hat sich unser Bild von Mutterschaft in den letzten Jahren geändert?
Die Frage ist schwer zu beantworten. Die Frau als Nicht-Mutter ist ein Thema, das erst in den letzten Jahren (wieder) aufkam. Bei #RegrettingMotherhood ging es ja vor allem darum, dass Frauen beklagten, als Mutter nicht mehr so leben zu können wie davor. Das Thema ist aber viel komplexer, finde ich. Die Gefühle, die du während Schwangerschaft, Geburt und danach hast, die kann dir niemand vorab erklären. Man hat anfangs keine Ahnung, was es bedeutet, Mutter zu sein. Das Mutterbild hat sich durchaus verändert, aber zu wenig, finde ich. Im deutschsprachigen Raum ist die Mutter noch immer sehr idealisiert. Das sieht man auch bei Themen wie dem Kindergartenplatz, da sind auch automatisch die Mütter zuständig. In unsicheren Zeiten, in denen es den Menschen wirtschaftlich schlechter geht, ist es oft so, dass ein Teil wieder aus dem Arbeitsmarkt gedrängt wird – in dem Fall sind das die Mütter. Auch auf Social Media sieht man weiterhin die perfekten Mütter. Dennoch denke ich, dass es seit Kurzem auch mehr Frauen gibt, die Mutterschaft verweigern. Das war eine Zeit lang echt kaum möglich. Eine Freundin von mir sagte in den 1980ern, dass sie aus feministischen Gründen kein Kind möchte – das war damals ein radikales Statement. So etwas scheint nun weniger tabu zu sein.
Ich fand es faszinierend, was dieses Kind körperlich in Helene auslöst: diese extreme Nähe, die du zu deinem Baby hast. Da habe ich mich gefragt: Wie weit kann das gehen? In der Geschichte verletzt Helenes Sohn Peter ihren Körper beinahe. Die Verlängerung des eigenen Körpers, das fand ich auf jeden Fall spannend. Darüber redet auch niemand: Dass du als Mutter das Gefühl hast, nie wieder alleine zu sein. Der Film spricht also über den weiblichen Körper; dieser ist ein Instrument, das unterdrückt wird oder eben auch durch das Kind beschlagnahmt wird. Die Unfreiheit des Frauenkörpers, das wollte ich damit zeigen. Ich fand es spannend zu zeigen, was so ein Frauenkörper erlebt – was haben auch unsere Mütter und Großmütter mit ihren Körpern erlebt?
Zentral für den Film ist auch die Beziehung zwischen Helene und ihrer Schwester Martha sowie jene zu ihrem Freund Karl. Was repräsentieren diese beiden Beziehungen für Helene? Welche Eigenschaften von ihr steigen in diesen Beziehungen an die Oberfläche?
Im Roman kommt es noch stärker heraus, dass die Beziehung zwischen Helene und Martha auch eine missbräuchliche ist, weil Martha Helene emotional ausnützt und unterdrückt. Wir haben uns stärker auf die gute Schwesternbeziehung gestürzt. Wir erzählen auch davon, wie traurig es ist, dass Martha wahrscheinlich nicht den Krieg überleben wird. Helene ist eine klassische resiliente Figur, die sich schon als Kind sehr viel um ihre Mutter und ihre Schwester kümmert – auch davon muss sie sich emanzipieren. Wir wollten auf jeden Fall von der großen Trauer erzählen, als Martha nicht mehr in Helenes Leben ist. Die Schwestern haben eine Körperlichkeit in ihrer Beziehung, sie berühren sich auch im erotischen Sinne. Das wurde beim Roman ebenso als Tabubruch empfunden, für mich ist es das weniger. Es gibt auf jeden Fall eine ungewöhnliche Nähe zwischen den Schwestern.
Letztendlich muss sich Helene auch in ihrer Liebe zu Karl emanzipieren. Am Schluss wirft sie sogar sein Hemd weg. Das war wichtig, denn sie muss sich selbst wiederfinden und ihren Weg gehen. An sich ist Karl aber Auslöser einer sehr zarten Liebe und Sexualität und vor allem einer freien Sexualität. Die beiden schauen einander an, sie schämen sich nicht. Er löst etwas in ihr aus, und sie entdeckt durch Karl neue Seiten an sich.
Im Prolog und Epilog des Buches wird die Geschichte aus der Perspektive von Helenes Sohn Peter erzählt. Dieser nimmt in deinem Film weniger Raum ein. Warum?
Ich finde es so schön im Roman, dass Peter seine Perspektive bekommt. Im Film sind wir eigentlich nur zu Beginn bei Peter und am Schluss auch ein bisschen. Wenn ich Peter die Perspektive gebe, dann schwingt da ganz stark der Vorwurf mit, dass Helene eine schlechte Mutter sei. Wir haben gemerkt, dass das die Figur der Helene beschädigen könnte, daher war es mir wichtig zu erzählen, dass am Ende eine Begegnung der beiden möglich ist – auch wenn es da Schmerz und Schuld gibt, auch wenn Helene ihren Sohn tief verletzt hat. Auch die Frau hat das Recht, jemanden zu verletzen.
Was kann uns Helenes Geschichte über Identität und Selbstbestimmung erzählen?
Die große Frage ist: Was passiert mit einer Frau, die nicht sie selbst sein darf? Das Resultat ist, dass sie gar nichts mehr spürt. Du musst dich selbst leben dürfen – das ist der Appell der Geschichte. Das ist natürlich etwas sehr Individualistisches. Wir leben in einer Zeit, in der wir uns fragen müssen, wie viel individualistisches Glück wir leben dürfen. Das kann man also auch im Sinne der Gemeinschaft hinterfragen. Wenn man sich aber ansieht, wer unterdrückt wird, dann stellt man fest, dass diese Personengruppen dafür kämpfen müssen, leben zu dürfen und eine eigene Stimme zu haben. Wenn man sich selbst nicht leben kann, dann verschwindet man, man wird zerstört. Die Frage nach der Identität ist auch in unserer Zeit so wichtig, etwa wenn Menschen Länder verlassen müssen oder wenn sie sich selbst nicht ausleben dürfen – beispielsweise hinsichtlich ihres Geschlechts oder ihrer Sexualität. Wenn du so viel unterdrücken musst, dann verschwindest du und hast eine schwere Depression.
Auch das Judentum ist ein wichtiges Thema in der Geschichte. Helene ist Jüdin. Julia Franck stammt ebenso aus einer jüdischen Familie. Wie bist du mit der Thematik des Judentums im Film bzw. bei der Figur der Helene umgegangen, was war dir wichtig?
Ich hatte ein Bild davon, wie lebendig, alltäglich und normal das deutsche Leben damals mit dem jüdischen Leben verbunden war. Trotzdem habe ich dazu noch viel recherchiert. Die deutschen Jüd*innen haben Deutschland ganz stark geprägt – das wollte ich etwa bei den Szenen mit Karls Freund*innen zeigen. Die jüdische Kultur ist eine deutsche Kultur, das war damals sehr vermischt. Mir ist es wichtig zu sagen, dass die deutsche Kultur nicht ohne die jüdische Kultur zu denken ist. Leider wurde sie brachial abgeschnitten und uns fehlt genaues Wissen darüber. Daher habe ich viel recherchiert, etwa zum Jiddischen. Das Lied »Black Is the Colour« haben wir auf Jiddisch übersetzt und einsingen lassen, das wollte ich so gerne. Es gab im Berlin der 1920er die Tendenz, die jüdische Kultur zu beleben, vor allem unter Künstler*innen. Auch Tante Fanny ist jüdisch und zugleich hat sie einen starken Berliner Akzent – das ist überhaupt kein Widerspruch.
Natürlich habe ich mich gefragt, ob ich als Nicht-Jüdin so eine Geschichte erzählen kann, aber ich habe mich wirklich sehr bei der Recherche bemüht und nehme mir das Recht heraus – auch dank Gesprächen mit Jüd*innen – dieses Thema nun zu behandeln. Sonst dürfte ich ja nur Geschichten erzählen über Menschen wie mich. Ich verstehe solche Diskussionen schon und finde sie auch wichtig, aber gerade als Regisseurin möchte ich in fremde Welten eintauchen und Menschen, die nicht wie ich sind, eine Stimme geben.
Hinsichtlich der optischen Gestaltung erinnern die Szenen oftmals an einen analogen Film. Was war dir bei der optischen und akustischen Gestaltung des Films wichtig?
Wir haben die Lebensphasen Helenes unterschiedlich gestaltet. Die Szenen ihrer Kindheit wollten wir so gestalten, dass sie an das Schmalfilmformat Super 8 erinnern. Das gab es auch in meiner Kindheit, das kenne ich also gut. Der Super-8-Stil zeigt, dass Helene bei sich ist und sich spürt. Daher gibt es auch später Szenen im Film, die an diese Super-8-Optik anschließen, wenn Helene eben ganz bei sich ist. Je mehr wir in diese Beengtheit ihrer Ehe mit Wilhelm gehen, desto weniger bewegt sich die Kamera und die Figuren sind in dem Frame regelrecht eingesperrt. Das Format wird wirklich enger und wir machen erst am Schluss wieder auf. Diese Idee habe ich mit Kameramann Filip Zumbrunn entwickelt. Er macht auch eine sehr körperliche Kamera, ist nah an den Figuren dran. Das hat er als Kameramann wirklich toll umgesetzt.
Die Soundarbeit war bis zuletzt sehr intensiv. Wir haben teilweise auch in Luxemburg gemischt. Mit dem Komponisten Kyan Bayani habe ich viel über Instrumente und Sound gesprochen. Der Trailer hat einen modernen Song, aber der kommt im Film gar nicht vor, da ich es nicht richtig fand, einen ganz modernen Song im Film selbst zu verwenden. Ich wollte das aus den Figuren heraus erzählen, daher war mir auch das jiddische Lied so wichtig.
Deine Filme behandeln mitunter Geschichten von Frauen, die sich in widrigen Umständen behaupten müssen. Siehst du bei »Die Mittagsfrau« Parallelen zu deinen bisherigen Projekten wie etwa »Nordrand«?
Ich probiere mit jedem Film etwas Neues und es fällt mir schwer, meine eigenen Filme dahingehend zu analysieren. Wenn ich mir jetzt Mala als Helene ansehe, dann erinnert sie mich hinsichtlich ihrer Körperlichkeit an Nina Prolls Rolle in »Nordrand«. Auch dort war der Frauenkörper ein wichtiges Thema – das kommt bei mir immer wieder vor. Ich habe bei dem aktuellen Projekt viel über Hoffnung und Hoffnungslosigkeit nachgedacht. Ich habe auch so Filme gemacht wie »Böse Zellen«, die ziemlich düster waren, die nicht viel Hoffnung hatten. Das Ende von »Nordrand« empfand ich wiederum als hoffnungsvoll. So hoffnungsvoll ist »Die Mittagsfrau« nun allerdings nicht.
Ich möchte in den aktuellen Zeiten keine zynischen und hoffnungslosen Filme machen. Ich denke, es ist sogar einfacher, hoffnungslos zu werden und aufzugeben. Eigentlich müssen wir ja immer um das Menschliche ringen. Was ist der Mensch mit all seinen Abgründen, aber auch: Was ist die Zärtlichkeit zwischen Menschen? Was ist eine Verbindung, eine Berührung? Die Körper im Film sind mir daher sehr wichtig, deswegen freue ich mich, dass wir das im Film auf eine lebendige Weise zeigen konnten.
Gibt es noch andere Welten, in die du mit deinen Filmen eintauchen willst?
Eine Zeit lang habe ich mich sehr für das Unheimliche und das Metaphysische interessiert – das ist quasi das Gegenteil dieser Körperlichkeit. So war »Böse Zellen« ein Film, den ich eher für mich gemacht habe. »Licht« war auch körperlich, aber zugleich die Verweigerung der Körperlichkeit. Zudem möchte ich politische Filme machen. Ich habe großen Respekt vor Regisseur*innen wie Agnieszka Holland, die in ihrem aktuellen Film »Zielona granica« die Flüchtlingskrise und Gewalt gegen Flüchtlinge an der polnischen Grenze zeigt. Mir gefällt es, wenn Regisseur*innen Filme über akute Themen machen. Mich machen die Flüchtlingspolitik und der Umgang mit Flüchtlingen wahnsinnig wütend. Wir tun viel zu wenig. Ich arbeite dazu gerade an einem Film. Wobei es sehr schwer ist, weil ich die Geschichte nicht von außen erzählen möchte, aber zugleich merke ich, dass ich die Geschichte auch schwer von innen erzählen kann. Dennoch: Ich würde das Publikum gern auch mit Geschichten darüber bewegen. Ich habe zudem noch von einem Drehbuchautor ein Drehbuch angeboten bekommen – da geht es wieder um ein ganz anderes Thema. Ich finde toll, wie sich die Gesellschaft in manchen Bereichen verändert bzw. beginnt sich zu verändern, etwa durch #MeToo, gerade in den letzten Jahren gab es viel Bewegung. Auch in der Filmbranche gibt es Umbrüche, People of Color sind nun hoffentlich im filmischen Bereich sichtbarer, das finde ich spannend. Von welcher Welt erzählen wir und wie können wir damit auch die Welt an sich ein bisschen verändern? Jedes Bild, das wir schaffen, verändert die Welt. Auch ein belangloses Bild ist da, es existiert für immer; wir müssen also mit Bildern verantwortungsvoll umgehen.
Der Film spielt bereits im Titel auf die slawische Legende der Mittagsfrau an. Welche Interpretation hast du für diese Legende? Wer ist die Mittagsfrau?
Wir haben die Legende für uns uminterpretiert. Soviel ich weiß, dachte Julia Franck ursprünglich gar nicht daran, ihr Buch so zu nennen. Ich glaube, dass die Sage der Mittagsfrau benutzt wurde, um die Leute zu Mittag in der Mittagshitze vor dem Sonnenstich zu bewahren und sie zu einer Pause zu zwingen. Wir haben es so interpretiert, dass die Mittagsfrau dich auffordert, deine Herkunft zu reflektieren. Du sollst danach fragen, wer du bist – und du musst deine Geschichte auch weitergeben. Auch die Traumata, die in unseren Familienbiografien zu finden sind, vergehen erst dann, wenn du über sie Bescheid weißt und darüber sprichst. Das kenne ich auch aus meiner Erfahrung: Ich komme aus einer Täter*innenfamilie und erst ab dem Zeitpunkt, als ich das wirklich reflektierte und dazu arbeitete, hatte ich das Gefühl, gewisse Dinge anders weitergeben zu können als die Generation davor. Als ich 2012 »Die Lebenden« drehte, merkte ich, wie unterschiedlich Deutschland und Österreich mit ihrer Geschichte umgehen. Ich sprach mit den deutschen Zuschauer*innen und meinte, dass diese ja im Gegensatz zu Österreich schon alles aufgearbeitet hätten, man erklärte mir aber, dass diese Aufarbeitung nur in der Öffentlichkeit, nicht jedoch in der eigenen Familie stattgefunden habe. Die Auswirkungen der Shoah sind nicht nach ein oder zwei Generationen einfach vorbei, das lebt ja alles weiter. Gewalt wird immer an die nächsten Generationen weitergegeben. Auch bei einem Krieg wie dem gegen die Ukraine, der genauso kommende Generationen betrifft. Und auch der Krieg in Bosnien zeigt sich noch jetzt in der Bevölkerung.
Ich muss mich also dem stellen, woher ich komme, deswegen sagt Helene zu Peter am Schluss auch: »Erzähl mir eine Geschichte.« Er soll ihr von seinem Schmerz erzählen. Sprich über deinen Schmerz und schluck ihn nicht hinunter! Äußere dich, verstumme nicht, sondern sprich!
»Die Mittagsfrau« von Barbara Albert ist ab 25. Oktober 2023 in den österreichischen Kinos zu sehen.