Gefeierte TV-Epen wie „Mad Men“ und „Breaking Bad“ gehören zum besten, was das Fernsehen je hervorgebracht hat. Nur: Mit dem, was Fernsehen einmal war, hat das neue „Quality TV“ nicht mehr viel zu tun. Über Glanz und Biederkeit des Serienbooms.
Es gibt Aufruhr im Arte-Kanal: Zwischen Opernaufzeichnung, Sumerer-Themenabend und Kurzfilmrolle springt plötzlich ein verzweifelter Mann in Unterhose aus einem Kleinbus, packt eine Pistole und spricht seine letzte Grußbotschaft in eine Videokamera. Der Mann heißt Walter White, und so sieht sein erster Auftritt in der famosen Fernsehserie „Breaking Bad“ aus. Die Thrillergroteske um den arglosen Chemielehrer, der sich nach der Krebsdiagnose aufs Drogenbrauen verlegt, lief Anfang Oktober 2010 auf dem hehren deutsch-französischen Kultursender Arte an. (Die ersten beiden Staffeln waren bereits am Schweizer Öffentlich-Rechtlichen SF2 zu sehen.) Fast zeitgleich erlebt die zweite Erfolgsserie des US-Kabelsenders AMC, das erlesene Sixties-Sittenbild „Mad Men“, seine reichlich verspätete Free-TV-Premiere im deutschen Sprachraum: auf ZDF Neo, dem Digitalkanal des Zweiten für ein anspruchsvolleres Jungpublikum.
Das Interesse dieser Sender spiegelt das enorme Renommee wider, das beide Serien nicht nur in den USA, sondern dank DVD-Boxen und Internet-Filesharing längst bei einer internationalen Zuseherschaft genießen. Bei der Emmy-Verleihung Ende August räumten die Serien zum wiederholten Mal in Schlüsselkategorien ab. Und gerade um das TV-Epos „Mad Men“, das die Belegschaft einer New Yorker Werbeagentur durch die beginnenden 60er Jahre begleitet, hat sich zwischen Blogs und Zeitungs-Kulturseiten eine veritable Interpretationsindustrie entwickelt.
Damit sind „Mad Men“ und „Breaking Bad“ die jüngsten Beispiele einer Aufwertung der Fernsehserie zum kulturellen Großereignis, die vor allem der Bezahlsender HBO seit Ende der 90er zielstrebig und markenbewusst betrieben hat. Ambitionierte HBO-Serien wie „The Sopranos“, „The Wire“ oder „Deadwood“ begeisterten einhellig Feuilletonisten, Blogger und andere Meinungsbildner und wurden zum Aushängeschild des amerikanisch-britischen Serienbooms der vergangenen Dekade.
Wo früher dumpfer Dreck mit Lachern vom Band war – so lautet die gern erzählte Erfolgsgeschichte des Quality TV –, sprießt nun Subtiles und Subversives, Gesellschaftskritisches und Abgründiges, unbehindert von Zensur und kurzatmigem Hinarbeiten auf die nächste Werbepause. Tatsächlich hat der Qualitätsserienboom einige der erstaunlichsten Arbeiten der jüngeren Popkultur hervorgebracht. Bloß: Was häufig als „Erwachsenwerden“ des Schmuddelkinds Fernsehen gepriesen wird, lässt sich genauso gut als dessen Gentrifizierung begreifen.
Zu den Eingeweihten sprechen
Das Wuchern anspruchsvoller Serienformate folgt nicht einfach der freien Entfaltung bislang gehemmter Kreativkräfte, sondern konkreten Verschiebungen des Fernsehmarktes: Die Vervielfachung der US-Fernsehkanäle seit den 80er Jahren und die generelle Zunahme an Unterhaltungsangeboten machen es Sendern zunehmend schwierig, mit Konsensprogrammen breite Bevölkerungsschichten zu erreichen. An die Stelle von broadcasting tritt narrow casting: das Andocken an die unzähligen Nischen, in die sich das einstige Massenpublikum aufgelöst hat. In diesem Spiel können Pay-TV-Kanäle wie HBO oder Showtime risikobereiter agieren, weil sie nicht von Werbeeinnahmen leben, sondern von der langfristigen Bindung zahlender Abonnenten. Auch AMC steht mit den öffentlichen TV-Networks nicht in direkter Konkurrenz: Der Spartensender spielt vor allem einen umfangreichen Katalog alter Hollywoodfilme ab. „Mad Men“, „Breaking Bad“ oder die neue Spionageserie „Rubicon“ leistet man sich als Investition ins eigene Image.
Der Versuch dieser Sender, sich bei einem zahlungskräftigen, gebildeten Publikumssegment als Marke zu etablieren, hat die verhaltene Melancholie von „Mad Men“ ermöglicht, die durchgeknallte Tragik von „Breaking Bad“, und die akkumulative Wucht von „The Wire“. Im Abtausch ist aber verloren gegangen, was Fernsehen noch bis in die 70er und 80er hinein war: ein alltagsnahes Forum, wo gesellschaftliche Konflikte und Spannungen vor einem wirklich breit gestreuten Publikum verhandelt werden konnten. Von der schieren kulturellen Signifikanz eines Phänomens wie „Dallas“ können die neuen Qualitätsserien nicht einmal mehr träumen. Deshalb kriegen „subversive“ Themensetzungen und unverblümte Sex- und Gewaltdarstellungen hier auch so schnell einen selbstgefälligen Beigeschmack: Man spricht ja sowieso nur zu den Eingeweihten. Folgerichtig ist die eigentliche mediale Form der neuen Qualitätsserien nicht mehr deren Ausstrahlung, sondern die wälzerdicke DVD-Box, die typischerweise in Einzellektüre konsumiert wird.
Was heißt Qualität?
Auch in seiner Erzählhaltung ist das Quality TV eng am Roman orientiert – und dabei durchaus altmodisch: „Qualität“ – das klingt schon verdächtig nach biederen BBC-Literaturadaptionen mit knarrendem Parkett und knisternden Unterröcken. Und die Werte, an denen sich ein Großteil der aktuellen Prestige-Serien abarbeitet, verweisen tatsächlich auf einen gediegenen Realismus des 19. Jahrhunderts: psychologisch reich ausgepolsterte Charaktere; pointierte moralische Zwickmühlen; dicht geschilderte Erzählwelten, die sich quer durch die Milieus fressen. Dieser Hang zum großen epischen Zusammenhang paart sich im Qualitätsfernsehen freilich mit kontroversen Themen von Drogenkriminalität bis Polygamie: Im besten Fall (exemplarisch: „The Wire“) ermöglicht diese Kombination ein Erzählen, das auf sehr mitreißende Weise komplexe Gegenwartszusammenhänge in den Blick bekommt. HBO und Co. machen es aber auch billiger: Die Mischung aus psychologischem Realismus, liberalem Humanismus und Reizthemen eignet sich ebenso zum gefälligen Schema – am mustergültigsten vielleicht in der spaßigen, aber überschätzten Bildungsbürger-Soap „Six Feet Under“.
Intelligentes Leben vor HBO?
Trotz ihrer „filmischen“ Looks und Schauwerte sind diese Serien mehr vom Dramaturgischen her gedacht als von der inszenatorischen Durchgestaltung: Am stärksten sind auch „Mad Men“ und „Breaking Bad“ eben darin, dem seriellen Erzählen spielerisch neue Kniffe und Zeiterfahrungen zu entlocken. So übersetzt sich das Generalthema von „Mad Men“ – wie eine Gruppe Macho-Männchen von den 60er Jahren überrollt wird, ohne es zu merken – in eine sehr kontrollierte Dramaturgie, die Konflikte zuerst kaum andeutet und dann jäh eskalieren lässt: Nie scheint sich etwas zu ändern im Büroalltag der Agentur Sterling Cooper, und trotzdem hat sich bis zum Ende einer Staffel wieder alles verschoben. Das exakte Gegenteil dieses trügerischen Stillstands kultiviert „Breaking Bad“: Wie sich Highschool-Lehrer White in einen gefürchteten Drogenboss verwandelt, das wird geschildert als ununterbrochene Reihe von Krisensituationen, die sich nie auf einen Normalzustand einpendeln.
Aufgrund dieser Qualitäten lassen sich „Breaking Bad“ und „Mad Men“ auch in eine ganz andere Ahnenreihe von Fernsehserien stellen als die von HBO: zum Beispiel neben Formate wie die Sitcom „The Honeymooners“ (1955-1956), die Agentenserie „The Prisoner“ (1967-1968) oder die Sketch-Show „SCTV“ (1976-1984). Die gingen mit den Fernseh-Rahmenbedingungen ihrer Zeit völlig anders, aber nicht weniger einfallsreich um. Das Irritierendste an der Quality TV-Begeisterung ist nämlich, dass dabei gern so getan wird, als hätte das Fernsehen – und sein Publikum – erst in den letzten fünfzehn Jahren denken gelernt.
„Mad Men“ läuft ab 6. Oktober auf ZDFneo. „Breaking Bad“ läuft ab 9. Oktober auf Arte. DVD-Boxen beider Serien sind im Handel erhältlich.