Höhere Tochter, Skandalnudel, Gattin, Hollywoodstar, noch fünfmal Gattin, Erfinderin, Diebin, Irrlicht. Hedy Lamarr, eine der ganz großen Töchter Österreichs, wäre bald 100 Jahre alt. Ihr Leben hält keiner geradlinigen Erzählung stand. Darum: Versuch einer Würdigung in Anekdoten.
Döbling
Hedwig Kiesler kommt am 9. November 1914, nach eigenen Angaben möglicherweise aber auch 1913 oder 1915, als Tochter von Emil und Trude Kiesler zur Welt. Der Vater ist Direktor in der Kreditanstalt Bankverein, die Familie bewohnt eine dreistöckige Villa in der Peter-Jordan-Straße in Döbling, schon damals eine der besseren Wohngegenden Wiens. Hedwigs Erinnerungen an die letzten Tage der Menschheit: "Da draußen gab es hungrige Kinder und dünne Babys. Ich dagegen war ein dickes Baby. Der Krieg kam mir niemals wirklich nah."
Berlin-Washington
Auf der Laufbahn einer höheren Tochter (Schweizer Internat etc.) verlässt Hedy Kiesler Wien im Jahr 1930 in Richtung Berlin, um dort an Max Reinhardts Schauspielschule anzuheuern. Während einer Probe diktiert der Direktor anwesenden Journalisten: "Hedy Kiesler ist die schönste Frau der Welt." Nur zwei Jahre später ist sie auch die nackteste: Gustav Machaty besetzt sie mit der Rolle der Eva in "Ekstase", filmt sie unbekleidet und lässt sie einen Orgasmus darstellen (nach eigenen Angaben war der aber möglicherweise auch echt). Skandal! In mehreren Ländern wird der Film verboten, der Vatikan schäumt und auch in den USA wird "Ekstase" Chefsache: Präsident Roosevelt lässt seinen Finanzminister Henry Morgenthau Jr. den Film beurteilen, dieser spricht auf Vorschlag seiner Frau Elinor ein Verbot aus.
Normandie
Am 10. August 1933 feiert die erst 18-jährige Hedwig Kiesler in der Wiener Karlskirche ihre erste von sechs Hochzeiten. Der Bräutigam heißt Fritz Mandl, ist Chef der Hirtenberger Patronenfabrik, im Krieg unvorstellbar reich geworden - und ein großer Fan des europäischen Faschismus. Er pflegt gute Kontakte zum ungarischen Autokraten Miklós Horthy und lädt zu seinen eleganten Diners nicht nur Ödön von Horváth, Franz und Alma Werfel oder Sigmund Freud ein, sondern auch seinen italienischen Kumpel Benito Mussolini. Aber, bei aller Freundschaft: Als der notorisch eifersüchtige Mandl nach der Hochzeit versucht, alle Kopien von "Ekstase" vom Markt zu kaufen, mag ausgerechnet der Duce seine persönliche Kopie partout nicht hergeben. Im August 1937 gelingt Hedy Mandl die Flucht aus ihrem Wiener goldenen Käfig via Paris nach London und von dort mit dem Luxusdampfer "Normandie" nach New York. An Bord macht sie sich mit dem Hollywood-Studioboss Louis B. Mayer bekannt. Bei der Ankunft hat sie einen Vertrag mit MGM in der Tasche - und einen neuen Namen.
Mittelscheitel
Bereits ihre erste Hollywood-Rolle macht die österreichische Skandalnudel zur US-Filmdiva. Nach dem durchschlagenden Erfolg von "Algiers" (1938) gingen sogar gestandene Hollywood-Schönheiten wie Joan Crawford oder Joan Bennett zum Friseur, um sich den neuen Lamarr-Look zu verpassen: brünett, Mittelscheitel, ätherischer Blick. Berühmter Lamarr-Spruch aus dieser Zeit: "Glamourös sein ist einfach. Alles, was man tun muss, ist stillstehen und dumm gucken." Tatsächlich war ihr Schauspiel eher beschränkt. Klassischer Kommentar vom Filmkritiker der Los Angeles Times: "It may be a fact that the lady can't act." Bis 1945 folgen trotzdem weitere 14 Filme mit Co-Stars wie Clark Gable, James Stewart, Spencer Tracy, Lana Turner oder Judy Garland. Lamarr verdient Millionen und landet am Cover von Life, Newsweek, Cahiers du Cinéma oder Look, das sie 1944 - ex aequo mit Ingrid Bergman - zur schönsten Frau der Welt erklärt. Max Reinhardt hatte mal wieder Recht behalten.
Brüste
Sex sells: Anfang der 1940er Jahre hat der französische Avantgardekomponist George Antheil ("Ballet Mécanique") mangels kommerzieller Verwertbarkeit seiner Musik zum Drüsen- und Hormonspezialisten umgesattelt und ist unter anderem als Sex-Kolumnist für Esquire tätig. Als sie Antheil bei einem Abendessen vorgestellt wird, kommt Hedy Lamarr schnell zum Punkt: Könne man denn bezüglich ihrer etwas zu gering geratenen Oberweite mit Hormonbehandlung etwas erreichen? Antheil ist optimistisch, trotzdem verlagert sich das gemeinsame Interesse bald in Richtung Torpedos; wie genau, ist unbekannt. Lamarr und Antheil wollen den Krieg gegen Nazideutschland durch Erfindung einer gegen Störsender resistenten Torpedo-Steuerung beschleunigen und entwickeln dafür das Frequenzsprungverfahren (bei dem eine Funkübertragung immer wieder das Frequenzband wechselt). Lamarr bringt ihr Rüstungswissen aus ihrer Zeit mit Fritz Mandl ein, Antheil den Mechanismus seiner automatischen Klaviere, der zur Synchronisierung von Sender und Empfänger dienen soll. Das Patent für dieses "Secret Communication System" wird im Juli 1941 angemeldet, seine Anwendung nie realisiert. Dass digitale Kommunikation heute maßgeblich auf dem Frequenzsprungverfahren basiert, wird Lamarr erst reichlich spät gedankt, nämlich um das Jahr 1997, als erste Fachmedien die Verbindung herstellten. Lamarrs knapper Kommentar: "Das wurde auch Zeit." Auf die Feststellung, ihr Patent sei seiner Zeit um Jahre voraus gewesen, erklärt sie: "Das bin ich immer."
Rollen und Affären
Abgelehnte (oder wegen vertraglicher Verpflichtungen verpasste) Filmrollen:
"Die Frauen", George Cukor (1939), "Casablanca", Michael Curtiz (1942), "Wem die Stunde schlägt", Sam Wood (1943), "Laura", Otto Preminger (1944), "Der Fall Paradin", Alfred Hitchcock (1947), "Vater der Braut", Vincente Minelli (1950) Angebliche Affären:
Anatole Litvak, David Niven, Douglas Fairbanks Jr., Erich Maria Remarque, Woolworth Donahue, Clark Gable, Charlie Chaplin, Frank Sinatra. Angeblich abgelehnte eindeutige Angebote:
John F. Kennedy, Howard Hughes (der Milliardär soll Hedy Lamarr eine stattliche Summe geboten haben, um nach ihrem Modell eine Gummipuppe produzieren zu dürfen).
Warhol
Im Jahr 1966 dreht Andy Warhol den Film "The 14 Year Old Girl", auch bekannt als "Hedy, The Shoplifter". In der Titelrolle einer offenbar schwer derangierten ehemaligen Hollywood-Schönheit: Mario Montez. Soundtrack: The Velvet Underground. Die Vorlage für Warhols Farce ist seinen Zeitgenossen unverkennbar: Im Jänner 1966 wurde Hedy Lamarr, damals 51 und schon deutlich über dem Zenit ihrer Karriere, in Los Angeles festgenommen. In einem Drugstore hat sie Waren (Halskette, Make-up, Männerparfum, Grußkarten) im Wert von 86 Dollar entwendet. Im folgenden Prozess plädiert sie auf Unzurechnungsfähigkeit. Klassischer Kommentar: "Als Schauspielerin fand ich mich stets am überzeugendsten vor Gericht."
Nirvana
Die zweite Lebenshälfte der Hedy Lamarr verläuft beschaulich und tragisch. Nach dem Kaufhaus-Prozess und der im selben Jahr veröffentlichten (und von ihr vehement bekämpften) Biografie "Ekstase und Ich" verschwindet die Diva aus der Öffentlichkeit, unterzieht sich Schönheits-OPs, entfremdet sich von Freunden und Familie und strengt - wohl auch unter dem Eindruck zunehmenden Geldmangels - zahlreiche Prozesse an, unter anderem gegen die Verleger ihrer Autobiografie und gegen den Softwarehersteller Corel, der sein Programm Corel Draw 1996 mit einer Vektor-Grafik von Hedy Lamarrs Gesicht verpackt. Lamarr klagt und bekommt fünf Millionen Dollar. Die Geldsorgen sind weg, das Irrlicht brennt weiter. Ihre engste Freundin aus jenen Jahren, Arlene Roxbury, über Hedy Lamarrs allerengsten Freund: "TV was her buddy".
Wienerwald
Am 19. Jänner 2000 stirbt Hedy Lamarr in Beisein ihres allerengsten Freundes an Herzversagen, sie wird 85 Jahre alt. An ihrer Bestattung in Altamonte Springs, Florida, nehmen keine 20 Menschen teil, darunter ihr Börsenmakler. Im September 2003 erfüllen ihre Kinder Anthony und Denise Hedys letzten Wunsch und verstreuen ihre Asche an der Wiener Höhenstraße. In einer Meidlinger Wohnanlage ist heute ein Gehweg nach ihr benannt. Der Hedy-Lamarr-Weg verbindet den Amalie-Seidel-Weg mit dem Gertrude-Wondrack-Platz.
Der Autor empfiehlt zur weiteren Vertiefung Hedy Lamarrs Autobiografie "Ecstasy and Me". Das Medienhaus Wien veranstaltet am 23. und 24. Oktober einen Filmbrunch mit Lecture. Das Bezirksmuseum Währing zeigt ab 7. September eine Ausstellung. Seit 2011 zeigt der Houska-Preis, ein Forschungspreis, das Profil von Hedy Lamarr und im Theater Drachengasse wird das Stück "Curie_Meitner_Lamarr_unteilbar" vom 13. bis 18. Oktober gespielt. In Deutschland, Österreich und der Schweiz wird der Tag der Erfinder an ihrem Geburtstag gefeiert. Hedy Lamarr wäre am 9. November 2014 runde 100 Jahre alt geworden.