Mikropolitik der Emanzipation – »Cancel Culture« als konservative Propaganda

Die ominöse »Cancel Culture« zu bejammern, gehört zum guten Ton. Längst sind es nicht mehr nur rechte Kommentator*innen, die den Begriff ins Gefecht führen. Unter dieser propagandistischen Breitseite geht verloren, was Canceling eigentlich ist, was es mit (Ohn-)Macht beziehungsweise Verantwortung zu tun hat. Und wer hier eigentlich gerne wen zensieren würde.

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Es spukt derzeit mal wieder in den deutschsprachigen Feuilletons. Das Gespenst »Cancel Culture« scheint die Autor*innen heimzusuchen. Sie sehen es überall. Etwa wenn die Kabarettistin Lisa Eckhart von einer Lesung ausgeladen wird. Oder wenn Kritik an Peter Handkes Äußerungen zu Jugoslawien laut wird. Selbst die Kündigung eines amerikanischen Journalisten scheint in Österreich eine Schauergeschichte wert.

Folgt man diesen Artikeln, leben wir in einer Zeit der Zensur, nicht staatlicher Zensur, sondern Zensur durch einen links-politischen Mob, der sich primär auf Social Media formiere. Dieser Mob kontrolliere, was politisch korrekt sei zu tun, zu sagen und sogar zu glauben. Menschen, die dagegen verstoßen, würden »gecancelt«. Sie würden ihr Ansehen verlieren, ihren sozialen Status, ihre Karriere.

»Black Twitter« und #MuteRKelly

Die Wurzeln von »Canceling« finden sich Mitte der 2010er-Jahre im sogenannten »Black Twitter«. Diese lose Sphäre von Schwarzen¹ Amerikaner*innen auf dem Kurznachrichtendienst hat sich wieder und wieder als Quelle für Trends in den sozialen Medien erwiesen. Canceling wurde dort zunächst als ironische, subversive Reaktion auf kleine soziale Fauxpas benutzt. »You are canceled« hatte zunächst kaum mehr Bedeutung als eine hochgezogene Augenbraue und war als Reaktion auf nahezu alles legitim – vom falschen Outfit bis hin zum schlechten Filmgeschmack.

Mit zunehmender Popularität begannen Leute jedoch, den Begriff mehr und mehr ernst zu nehmen. Die Gründe für Canceling wurden gewichtiger, aber auch die Intentionen dahinter. Als Kenyette Barnes und Oronike Odeleye etwa 2017 die Kam­pagne #MuteRKelly starteten, war dies nicht mehr bloß ein ironisches Statement zu einem sozialen Fauxpas. Es war eine Reaktion auf Getanes und ungeahndetes Unrecht. Es waren Schwarze Frauen, die sich gegen Unrecht, das Schwarzen Frauen angetan wurde, zur Wehr setzten. Mit den Mitteln, die ihnen zur Verfügung standen. Die sozialen Medien boten ihnen eine Plattform – trotz des enormen Machtgefälles zwischen ihnen und dem millionenschweren, höchst prominenten Sänger.

Der Umgang mit Ohnmacht

Macht ist das zentrale Motiv der Diskussion um die sogenannte »Cancel Culture« – wer sie hat, wer sie haben darf. Hier liegt auch das erste Missverständnis, dem Kritiker*innen der »Cancel Culture« gerne aufsitzen: Sie vergessen, dass das auslösende Moment für Canceling nicht ein zu viel, sondern ein zu wenig an Macht ist. Canceling ist kein Machtmissbrauch, sondern ein Umgang mit Ohnmacht. Ohnmacht, bestehende systematische Ungerechtigkeiten zu ändern, Ohnmacht gegenüber sozial, ökonomisch und politisch Mächtigeren, Ohnmacht gegenüber Hass und Gewalt. Die sozialen Medien bieten diesen Ohnmächtigen eine Plattform, eine kleine Möglichkeit der Selbstermächtigung, eine Mikropolitik der Emanzipation.

Dies bringt uns zu Missverständnis Nummer zwei. Denn damit Selbstermächtigung zu Zensur, individueller Widerstand zu einem Mob fantasiert werden kann, bedarf es entsprechender Propaganda. Und diese Propaganda leistet gerade der Begriff der »Cancel Culture« selbst. Denn »Cancel Culture« ist keine neutrale Beschreibung eines Zustands. Er beschreibt eine konservative, reaktionäre Sicht auf eine Gesellschaft, die sich ändert.

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¹ Zuordnungen in Bezug auf Hautfarben sind gesellschaftlich konstruiert. Um diese Kon­struktion zu verdeutlichen, wird »Schwarz« in diesem Text großgeschrieben.

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