Mikropolitik der Emanzipation – »Cancel Culture« als konservative Propaganda

Die ominöse »Cancel Culture« zu bejammern, gehört zum guten Ton. Längst sind es nicht mehr nur rechte Kommentator*innen, die den Begriff ins Gefecht führen. Unter dieser propagandistischen Breitseite geht verloren, was Canceling eigentlich ist, was es mit (Ohn-)Macht beziehungsweise Verantwortung zu tun hat. Und wer hier eigentlich gerne wen zensieren würde.

Mächtige, von denen nunmehr verlangt wird, Verantwortung für ihr Handeln und ihre Meinungen zu übernehmen, fühlen sich angegriffen. Indem sie über »Cancel Culture« die Opfer zu Täter*innen machen, entziehen sie ihnen die moralische Legitimation – und sie sich selbst der Verantwortung. Nicht umsonst erinnern die Debatten rund um »Cancel Culture« und »Woke Culture« an jene um Political Correctness in den 1990ern. Auch damals wurde ein Begriff, der als augenzwinkernde Selbstbeschreibung gedacht war, von rechten Kommentator*innen umgedreht und als Angriff verwendet. Auch damals plapperten die deutschen und österreichischen Leitmedien diesen propagandistischen Diskurs unreflektiert nach. Es ist in der Tat erschreckend, wie unhinterfragt und unreflektiert der Begriff »Cancel Culture« gerade in deutschsprachigen Kommentaren verwendet wird. Beim Lesen ergibt sich gar der Eindruck, »Cancel Culture« wäre eine progressive Forderung, nicht ein reaktionärer Vorwurf.

»›Du hast schlecht gehandelt« wird zu »Du bist ein schlechter Mensch‹«. In dieser Verkürzung bleibt kein Raum für Besserung oder Versöhnung. — Illustration: Adobe Stock

Kultur in der Nacherzählung

Denn zur Erinnerung: Lisa Eckhart wurde vom Veranstaltungsort eines Literaturpreises ausgeladen in Befürchtung von imaginierten Protesten, die nie jemand angekündigt hatte. Peter Handke gewann den Literaturnobelpreis. Nachdem er angeblich gecanceled worden war. Und der amerikanische Journalist Donald McNeil – der im Übrigen schon in der Vergangenheit regelmäßig respektloses Verhalten an den Tag gelegt hatte – kündigte in Folge eines offenen Briefes von über 150 seiner Kolleg*innen. Ein Brief, der eine Entschuldigung verlangte, keine Kündigung. Diese Beispiele sind typisch für die angebliche »Cancel Culture«. Im Nacherzählen wird aus offenen Briefen eine Hasskampagne, aus einer verschobenen Veranstaltung ein Karriereende, aus fundierter Kritik von betroffenen Personen eine anonymisierte Hexenjagd.

Dies alles soll nicht heißen, dass es nicht auch legitime Kritik an Canceling gibt. Etwa wenn Canceling sich nicht gegen Personen in Machtpositionen richtet, sondern gegen Einzelpersonen, die mitunter selbst marginalisiert sind. Wenn diese von der eigenen Community gecanceled werden, dann bricht oft ein gesamtes Support-Netzwerk zusammen.

Kritik auf anderer Ebene

Ein Canceling kann für sie sozial vernichtend sein, aber auch finanziell und psychologisch. Natalie Wynn, beschreibt auf ihrem Youtube-Kanal »ContraPoints«, wie Canceling zu Essentialisierungen neigt. Schlechtes Verhalten ist damit automatisch Zeichen für den wahren Charakter der handelnden Person. »Du hast schlecht gehandelt« wird zu »Du bist ein schlechter Mensch«. In dieser Verkürzung bleibt kein Raum für Besserung oder Versöhnung.

Und zuletzt darf auch nicht vergessen werden, dass selbst politisch, finanziell und sozial mächtige Menschen eben doch einzelne Menschen sind. Obwohl sich als Beispiel vermutlich wenig an J. K. Rowlings Machtposition durch Canceling ändern wird, ist sie dennoch aus ihrer Perspektive mit Tausenden von kritischen, negativen und, ja, hasserfüllten Nachrichten konfrontiert. In dieser Situation ist es leicht, sich trotzdem machtlos zu fühlen.

Indem allerdings das Phantom einer allgegenwärtigen »Cancel Culture« heraufbeschworen wird, wird der Blick auf diese nuancierte und durchaus berechtigte Kritik am »Canceling« verstellt. Eigentlich sollten wir darüber nachdenken, wie wir mit Canceling besser umgehen können, wie wir Ohnmacht von Menschen produktiver auffangen und diese ermächtigen können, wie wir nachhaltig Verantwortung für Fehlverhalten einfordern können. Stattdessen fließt die Energie in einen Scheindiskurs, der nicht einmal eine hypothetische Lösung hat. Denn was ist die Alternative? Sollen wir aus einer imaginierten Zensur eine reale machen? Sollen wir verbieten, Kritik an Unrecht zu üben? Wessen Meinungsfreiheit verteidigen wir dann? Wer muss Verantwortung tragen? Wer darf Verantwortlichkeit verlangen?

Für fundierte Kritik an Cancel Culture, empfiehlt sich das Video-Essay »Canceling« von Natalie Wynn auf dem Youtube-Kanal »ContraPoints«.

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