Wer selbst schreibt, kennt das Gefühl, dass einem jedes irrelevante Detail als höchst wichtig erscheint. Was aber, wenn ein junges Schreibgenie genau solch minutiöse Schilderung benutzt, vielleicht nur, um seine Leser langsam in den Wahnsinn zu treiben?
Der Plot: Eine 21-jährige Behindertenbetreuerin namens Natalie tritt eine Stellung in einem Behindertenwohnheim voller Menschen mit fast zu interessanten Spleens an. Einer ihrer Klienten ist der im Rollstuhl sitzende Alexander Dorm, ein ungemütlicher Zeitgenosse, der sich vor Frauen ekelt, aber auch vor Natalies burschikosem Auftreten. Seiner enervierenden Art zum Trotze erhält er jede Woche Besuch von »Chris« Hollberg, dessen Leben er zerstört haben soll. Dorm, so erzählen es die Kolleginnen Natalie, sei ein Stalker gewesen, der sich in ihn verliebt habe und durch andauernden Psychoterror Hollbergs Frau in den Selbstmord getrieben habe. Naturgemäß stößt sich Natalie an diesem eigenartigen Besuchsarrangement, wird aber dafür nur belächelt und man versichert ihr, es habe schon alles seine Ordnung. Doch sie gibt sich damit nicht zufrieden und führt ihre eigenen sozialen Experimente durch, um die beiden aus der Reserve zu locken.
Nervt, verstört, gruselt
Soweit also die Handlung, die ewig braucht, um ins Rollen zu kommen und einen anfangs etwa alle 50 Seiten Überwindung zum Weiterlesen kostet. Natürlich quält Setz den Leser noch einmal extra mit all den Dingen, die er nur andeutet und nicht zeigt. Einer der Patienten zeichnet auf einfach allem in seinem Zimmer, und zwar irgendetwas, das einfach jedem den Atem raubt, der es zu Gesicht bekommt. Anhand der Beschreibungen kann man sich es allerdings nicht vorstellen, man bleibt frustriert zurück. Aber auch das kennt man von Setz bereits.
Doch dann passiert etwas. Die Figuren des neuen Romans sind unglaublich nervtötend. Sie reden zu viel und dauernd aneinander vorbei, sie schreiben absurde Gedichte, machen schlechte Witze, rutschen irgendwie an der Realität ab. Und schlägt man dann das Buch zu, ist man wie vom Donner gerührt, denn sie sind trotzdem noch alle im Raum und verfolgen einen zur Arbeit und zum Einkaufen. Man sieht ihre Gesichter, hört ihre Stimmen, denkt sich: »Geht weg!«, wie sich Natalie das manchmal auch in der Geschichte denkt. Man will schreien: »Lasst einander in Ruhe. Und mich auch!«
Es ist, als hätten Setz’ Bücher eine bestimmte Absicht, als sollten sie eine bestimmte Wirkung erzeugen, vergleichbar mit einer Gruselgeschichte, die Angst machen soll. Setz ist ein Verstörungskünstler, dessen Bücher nichts mit angenehmer Unterhaltung zu tun haben, sondern mit Entsetzen, Ekel, Verwirrung und Unbehagen. Gefühle eben, die um nichts leichter zu erzeugen sind, als ehrliche Angst. Das Spiel mit der Unbefriedigung, der enttäuschten Erwartung, dem Schock sind für ihn essentielle Werkzeuge.
Es ist diese Art von weltbewegender Schreibe, die Setz zum Star der deutschsprachigen Literatur gemacht hat. »Die Stunde zwischen Frau und Gitarre« sei die erste wirklich zusammenhängende Geschichte, die er geschrieben habe, sagt Setz und »kürzer ging es nicht«. Naja. Wirklich nicht? Wer selbst schreibt, kennt das Gefühl, dass einfach alles, was man beobachtet hat irgendwie wichtig ist und meistens ist es das nicht. Vielleicht hat keiner es gewagt, ihm die 1.000 Seiten auszureden, ihn zusammenstreichen zu lassen. Und gleichzeitig kommt immer wieder der Gedanke, dass vielleicht auch diese 1.000 Seiten, dieser enorme Umfang, Teil von Setz’ Mission sind, seine Leser wahnsinnig zu machen. Klappt eh.
»Die Stunde zwischen Frau und Gitarre« von Clemens J. Setz erscheint am 6. September via Suhrkamp.