Mit ihrem vierten Album kommt die Band Deerhunter aus Atlanta, Georgia endgültig im Zenit der Hypnose an. »Halcyon Digest«: Ein leises Bohren, ein geheimer Tanz, spukhafte Popsongs. Jetzt auch mit Saxofon.
My Bloody Valentine sind eine der zwei, drei ewigen Lieblingsbands von Bradford Cox. Aus den Einträgen in seinen mit Herzensseifer betriebenen Blog und aus seinen Interviews kann immer wieder die sausende Begeisterung des Leadsängers und Frontmanns von Deerhunter für die mythenumrankten irisch-englischen Säulenheiligen des Shoegazing herausgelesen werden. Die vermeintliche Dichotomie der Begriffe, die gerne zur Charakterisierung von My Bloody Valentines epochemachendem Album »Loveless« aus dem Jahr 1991 herangezogen wird, ist verlässlicher Begleiter des Werkens des vierköpfigen Formenwandlers Deerhunter: Auf »Loveless« verstecken sich hinter verschmierten Gitarrenmanipulationen und zitternden Klangwänden die verhuschtesten Sirenengesänge, schälen sich in bewusstseinserweiternder Mantrahaftigkeit, nach und nach, die wunderlichsten Zaubermelodien aus der Watte hervor. Dröhnender Noise vs. delikate Schönheit. Dicht geschichteter Klangballast vs. komplette Zerbrechlichkeit. Sound vs. Song.
Diese Balance der Ideen haben Deerhunter schon auf ihrem zweiten Album »Cryptograms« bemerkenswert austariert, jedoch noch mit etwas scharf konturierter Abgrenzung zwischen den jeweiligen Systemen, mit leicht offensiv ausgestelltem Wunsch zur Experimenthaftigkeit: Hier rauschende Ambientflächen, psychedelisches Wabern, dort Struktur und polternde Songs. Nach dem dritten, ebenfalls großartigen Album »Microcastle/Weird Era Cont.«, das die Pop-Affinitäten der Band schon feingliedriger herausarbeitete, erreichen Deerhunter heute mit »Halcyon Digest« die endgültige Verwischung, ein betörendes Ineinanderaufgehen aller bestmöglichen Klangwelten. Elf fließende, zärtlich stürzende Songs, elf sich umschmiegende Halluzinogene, die Deerhunter von ihrer bislang zugänglichsten Seite zeigen – ohne dabei jedoch auf Verwirrungen innerhalb der Baupläne ihrer noch kaum so sauber wie hier geschnitzten Melodien zu verzichten. Die Zutaten bleiben: Shoegaze, Sixties-Pop, Kraut, selten zuvor jedoch sind die Einfälle so mühelos und ohne falsche Protzerei in hypnotischem Dampf aufgegangen. Ein grazil ineinander verfugtes Puzzle aus Tönen und Sounds, aus Ahnungen, dem Schimmern der Träume, Echos der Jugend. Instrumentarium, das man im Universum der Band Deehunter für wenig wahrscheinlich gehalten hat – Banjo, Saxofon – funkelt unaufdringlich aus dem Mix. Gitarrist Lockett Pundt, der neben Deerhunter auch unter dem Namen Lotus Plaza nach schönem Schlaf riechende Musik veröffentlicht, fügt zwei Stücke in das Panorama, besonders erstaunlich dabei das herausragende »Desire Lines«, das sich zunächst als der bislang wohl poppigste Song von Deerhunter gibt, um nach gut drei Minuten unmerklich in die Drum-Motorik des Krautrock überzugleiten und sich auf knappe sieben Minuten aufzuplustern. Eine unanstrengende, eine unangestrengte Musik, in der die Begriffe nichts mehr bedeuten und alles zusammenpasst. Im letzten Stück des Albums, das dem im vergangenen Jahr im Alter von 29 Jahren verstorbenen Garagen-Punk Jay Reatard gewidmete »He Would Have Laughed«, reißt »Halcyon Digest« mitten im gleißenden Ton, der noch ewig so weitersummen könnte, unvermittelt und ohne Warnung ab, der Hörer wird hochgeschreckt und in die Welt zurückgeworfen. War es nur ein Traum?
»Halycon Digest« von Deerhunter ist bereits auf 4AD erschienen.