Der Comic-Roman »Maus« ist und bleibt ein bahnbrechendes Stückchen Kultur. Sein Schöpfer Art Spiegelman wird seither fast ausschließlich in Verbindung mit diesem Werk wahrgenommen. Mit »MetaMaus« sollen nun alle Fragen ein für alle Mal beantwortet werden.
Comics genießen immer öfter das Rampenlicht der Universitäten. Viel zu oft aber geht diese Auseinandersetzung Hand in Hand mit einem zwanghaften akademischen Drang nach Erhebung in den Rang der »echten Künste«. Es bedurfte einer ungenierten Wissenschafterin wie Hillary Chute, um einerseits nicht in diese Falle zu tappen und andererseits ein so gewaltiges Monument wie »Maus« in Angriff zu nehmen. Ihre Arbeiten an der Harvard University und der University of Chicago waren es, die den Autor Art Spiegelman schließlich dazu bewegten, ihr Zugang zu seinen umfangreichen Aufzeichnungen zu gewähren. Das Ergebnis nennt sich »MetaMaus«.
Dass »Maus« seine ganze Karriere überschatten sollte, konnte er 1980 beim Abdruck der ersten Episode im Magazin RAW noch nicht ahnen. »Ich hatte arroganterweise angenommen, dass mein Werk erst posthum anerkannt werden würde«, gesteht Spiegelman. Als Pantheon Books 1986 die ersten sechs Teile in einem Sammelband veröffentlichte, begann es ihm zu dämmern, wie monumental sein Werk angesehen wurde. Mit der Vollendung von »Maus« fünf Jahre später verschmolzen Künstler und Werk. Spiegelman wurde u.a. mit dem Pulitzer-Preis geehrt und trat einen kontinuierlichen Rückzug an, vor dieser Eindimensionalität der Wahrnehmung flüchtend. Umso beeindruckender also, dass es Hilary Chute nicht nur gelang, den Künstler wieder zu seiner eigenen Nemesis zurückzubringen, sondern eine finale Stellungnahme zu »Maus« öffentlich zu machen.
»I’d arrogantly assumed my work would be appreciated posthumously.« Art Spiegelman
Geschichts- vs. Geschichtenbewältigung
Der Ursprung von »Maus« liegt in Art Spiegelmans angespanntem Verhältnis zu seinem Vater Vladek Spiegelman begründet. Über lange Zeit hinweg fehlte beinahe jeglicher Kontakt zwischen den beiden. Einerseits war Vladek der einzige noch verbleibende Rest seiner engsten Familie – seine Mutter Anja beging Selbstmord, als er 20 Jahre alt war. Gleichzeitig klaffte zwischen den beiden einige enorme Gräben.
Einer davon sollte paradoxerweise zur Annäherung zwischen Vater und Sohn führen und der Grundstein für »Maus« werden: Vladeks Erlebnisse in Nazi-Deutschland und dessen Konzentrationslagern. In »MetaMaus« zeigt Spiegelman bereitwillig auf, wie schwer er damit zu kämpfen hatte, dass seine Familiengeschichte sowohl unmittelbar mit seinem Vater als auch in der Zeitgeschichte verhaftet war. Als er Anfang der 1970er beschloss, ihn ausführlich zu befragen, geschah dies auch mit der Hoffnung auf therapeutischen Effekt. »Es war schwierig für mich, über meine Vergangenheit nachdenken zu müssen, und es war schwierig, in der Gegenwart meines Vaters sein zu müssen, metaphorisch gesprochen und auch ziemlich konkret«, gesteht er.
Erinnerung in Bild und Schrift
Ein anderes Hindernis in der Entstehung von »Maus« war die Quelle selbst. Wieviele von Vladeks Erinnerungen waren überhaupt präzise? Wie konnte Art sicher gehen? Sollte »Maus« eine persönliche und emotionale Aufarbeitung werden oder konnte es als historische Biografie Bestand haben? Bis in die kleinsten Details beleuchten Hillary Chute und Art Spiegelman die Strapazen, um eine angemessene Balance zu finden. Die trügerische Natur individueller Erinnerungen, wie auch die Verlockung, diese zu Fakten zu erheben, war Art Spiegelman an jedem Punkt bewusst. Seine eigenen Worte bringen es am ehesten auf den Punkt: »Das Thema von ‚Maus’ ist die Suche nach der Erinnerung und letztlich die Erschaffung von Erinnerung.«
»The subject of ‚Maus’ is the retrieval of memory and ultimately, the creation of memory.« Art Spiegelman
Aus dieser Situation heraus ergab sich dann auch für »MetaMaus« die Entscheidung für das Medium Comics. Nicht nur ist es Spiegelmans vertrauteste Schreibform, es boten sich damit auch ein paar Vorteile. An diversen Beispielen, dank Exzerpten aus Notizen und Skizzen säuberlichst dargestellt, zeigt »MetaMaus«, wie Spiegelman das Medium nutzt, um die diversen Ebenen – der Erzähler Vladek, Vladeks Wiedergabe der Berichte anderer, Art als Sohn im Comic, Art der Künstler außerhalb des Comics, historische Fakten etc. – sichtbar zu machen. Darin hebt sich »Maus« auch heute noch von anderen persönlichen Darstellungen des Zweiten Weltkriegs ab. Die Schritte, die Art Spiegelman – sehr oft von Ehefrau Françoise Mouly tatkräftig unterstützt – auf seiner Suche setzte, fügen sich auf den Seiten von »MetaMaus« jetzt zu einem imposanten Gesamtbild von zwangsneurotischer Hingabe an den Schaffensprozess.
Das letzte Wort
So führen Hillary Chute und Art Spiegelman die Untersuchung weiter. Einflüsse, Hintergründe, Familiengeschichte und vieles mehr – was auch immer Relevanz in der Entstehung von »Maus« hatte, wird unter die Lupe genommen. Familienstammbäume und Zeitlinien vervollständigen den Hintergrund. Auf der DVD findet man eine vollständige, digitale Ausgabe von »Maus« (mit Skizzen, Audioclips und Notizen versehen), ein vollständiges Transkript der Gespräche zwischen Vladek und Art, die »Maus«-Notizbücher von Art Spiegelman und tausende Entwürfe aus dem Entstehungsprozess. In dieser Masse und Tiefe an Material ist scheinbar wirklich alles gesagt, was es zu diesem wegweisenden Werk zu sagen gibt. Letztendlich bleibt nur die Frage, ob es denn wert ist, sich so sehr damit auseinanderzusetzen? Festzuhalten ist, dass »Maus« einen unauslöschlichen Einfluss auf unsere Kultur hinterlassen hat. »MetaMaus« besteht als notwendige und umfassendste Untersuchung des Werkes mit faszinierenden Einblicken. Und ein inniger Wunsch von Art Spiegelman dürfte damit auch erfüllt worden sein: Jede Frage zu »Maus«, die ihm künftig gestellt wird, kann er getrost auf »MetaMaus« abwälzen. Hier steht alles drin.
»MetaMaus« erscheint im September im S. Fischer Verlag in deutscher Sprache. Die englische Ausgabe ist bereits bei Pantheon Books erschienen. www.pantheonbooks.com
AD PERSONAM – Art Spiegelman
Am 15. Februar 1948 kam Itzhak Avraham ben Zev Spiegelman in Stockholm zur Welt, wurde bei der Einreise in die USA auf Arthur Isadore umbenannt und änderte seinen Namen bei erster Möglichkeit auf Art Spiegelman. Als Teenager begann er bei Topps Bubblegum als Illustrator von Kaugummi-Sammelkarten zu arbeiten, wo er an US-Popkultur-Phänomenen wie den »Garbage Pail Kids« mitwirkte. Bereits in seinen frühen 20ern wurde er zu einem elementaren Bestandteil der Underground Comix in den USA. 1975 gründete er mit Bill Griffith das Magazin Arcade. 1980 riefen Françoise Mouly (seit 1977 seine Ehefrau) und er die Anthologie RAW ins Leben, welche zu einer zentralen Publikation der alternativen Comic Book-Szene wurde. 1986 erschien der erste Band von »Maus«, 1991 dann der zweite und finale Teil. Die Anerkennung für »Maus« (eine Pulitzer-Sonderauszeichnung, zweimal den Angoulême ICF Best Comic Book Award, Max & Moritz-Auszeichnung, Eisner Award, Harvey Award, uvm.) überschatten noch immer seine weitere Arbeit. Er war von 1992 bis Anfang 2002 für The New Yorker tätig, veröffentlichte 2004 »In The Shadow Of No Towers« und stellte mit Françoise Mouly eine Reihe von Comic-Anthologien für Kinder unter dem Titel »Little Lit« zusammen. 1999 wurde er in die Will Eisner Award Hall Of Fame eingeführt, 2011 erhielt er den Angoulême ICF Grand Prix.
Timeline zur Entstehung von »Maus«:
1906 – * Vladek Spiegelman
1912 – * Anja Zylberberg
1937 – Vladek und Anja heiraten
1944 – Vladek und Anja nach Auschwitz gebracht
1945 – Zweiter Weltkrieg endet in Europa; Vladek und Anja wiedervereint
1948 – * Art Spiegelman
1955 – * Françoise Mouly
1968 – † Anja Spiegelman (Selbstmord)
1972 – Art beginnt Interviews mit seinem Vater
1978 – Arbeit an »Maus« fängt an
1980 – RAW Volume 1 #2, Serialisierung von »Maus« eingeleitet
1982 – † Vladek Spiegelman
1986 – »Maus I« veröffentlicht (Pantheon)
1991 – RAW Volume 2 #3, Fertigstellung der »Maus«-Serialisierung
1991 – »Maus II« veröffentlicht (Pantheon)
1996 – »The Complete Maus« veröffentlicht (Pantheon)
Quelle: »MetaMaus«, Pantheon, 2011