Die 19. Ausgabe des International Documentary Film Festival Vienna hat den Festivalfokus »Hauntings«. Was oder wer hier heimgesucht wird und wie es um heimisches wie internationales Dokumentarfilmschaffen bestellt ist, erklären die Festivalleiter*innen Marie-Christine Hartig und Martin Lintner im Interview.

Der Name von Ethnocineca verrät schon, dass ethnografischer Film bei euch im Fokus steht. Woher kommt dieser Schwerpunkt?
Marie-Christine Hartig und Martin Lintner: Mit dem Namen halten wir die Ursprünge der Ethnocineca in Ehren und das, was das Festival in den ersten zehn Jahren seines Bestehens geprägt hat. Seit 2016 haben wir den Fokus erweitert. Mit dem zusätzlichen Titel International Documentary Film Festival Vienna weisen wir in die Zukunft des Festivals. Der ethnografische Film als Herzstück der Ethnocineca findet weiterhin seine Anerkennung im Excellence in Visual Anthropology Award, einer von fünf Wettbewerbskategorien, in denen Preise verliehen werden. So wollen wir dem ethnografischen Film neben anderen dokumentarischen Filmformen eine Plattform und Sichtbarkeit über den universitären/wissenschaftlichen Diskurs hinaus bieten. Neben dieser Festivalhistorie geht es aber vor allem auch darum, den anthropologischen Zugang zu Filmschaffen zu fördern sowie Diskursräume zwischen Wissenschaft und Filmkunst zu eröffnen.
Welche Stellung hat der Dokumentarfilm – der heimische wie der internationale – in der österreichischen Filmlandschaft?
Der österreichische Dokumentarfilm und dessen Resonanz im In- und Ausland sind eine große Erfolgsgeschichte. Die Anzahl der in Österreich geförderten Kinodokumentarfilme steigt jährlich, aber auch auf europäischer Ebene geht die Tendenz nach oben. Die Zahl der Kinoerstaufführungen im Dokumentarfilmbereich nahm in den letzten Jahren ebenfalls zu und somit wurde auch das Dokumentarfilmpublikum in den österreichischen Kinos in den letzten Jahren immer mehr. Als Österreichs größtes Filmfestival, das sich ausschließlich dem Dokumentarfilmschaffen widmet, wollen wir die künstlerische Breite und Vielfalt der Zugänge zeigen und diskutieren sowie einen Austausch zwischen österreichischen und internationalen Dokumentarfilmschaffenden ermöglichen – dies im Kino, durch das Rahmenprogramm und in den sozialen Räumen, die während der Festivalwoche geschaffen werden.
Worauf freut ihr euch persönlich besonders bei der diesjährigen Ethnocineca?
Am meisten freut man sich schon mal grundsätzlich auf die Festivalwoche, auf die Filmgäste und vielen Gespräche vor und nach dem Kino und den Austausch mit dem Publikum. Also einfach darauf, wenn das, an dem man fast ein Jahr arbeitet, dann wirklich stattfindet. Besonders freuen wir uns heuer auf die Auseinandersetzung mit dem diesjährigen Festivalfokus »Hauntings«. Dieser erstreckt sich über die gesamte Festivalwoche – von der Eröffnung mit einer Keynote der Filmfestivalprogrammiererin und Kuratorin Jacqueline Nsiah über diverse Rahmenprogramme und kuratierte Filmprogramme bis hin zu den Kurzfilmen der wieder stattfindenden Filmwerkstatt. Die Filme des Themenschwerpunkts beleuchten komplexe Beziehungen zwischen Europa und anderen Regionen der Welt, untersuchen koloniale und postkoloniale Hegemonien anhand des künstlerischen Zugangs von außereuropäischen Filmschaffenden, beschäftigen sich mit Dekolonialisierungsprozessen, mit Zukunftsängsten in Bezug auf Auswirkungen des Klimawandels auf die Natur und mit persönlichen Biografien, die von rezenter Gewalt und Kriegserfahrungen geprägt sind. Ebenso freuen wir uns auf die Filmwerkstatt, wie der Ethnocineca-Filmworkshop zur Nachwuchsförderung heißt. In diesem produzieren interessierte Teilnehmer*innen binnen elf Tagen in Kleingruppen Kurzdokus, die im Rahmen des Festivals ihre Premieren feiern.

Wie sieht eure Zusammenarbeit aus? Wie teilt ihr euch die Arbeit auf?
Als Festivalleitungsduo haben wir für alle Bereiche die Verantwortung gleichermaßen geschultert. Gemeinsam kümmern wir uns um die inhaltliche Ausrichtung des Festivals und das künstlerische Programm. Auch die Geschäftsführungsagenden und die organisatorische Arbeit teilen wir uns auf, denn die macht niemand gerne alleine. Wir arbeiten jetzt schon seit 2012 eng zusammen, dadurch haben wir uns gut aufeinander eingestellt und wissen bei wem welche Stärken liegen. So ist Marie-Christine mehr in Kooperationen, Produktion und Kommunikation eingebunden, während Martin sich mehr um Verwaltung, Website und Grafik kümmert. In allen Bereichen haben wir ein großartiges Team, das uns tatkräftig unterstützt.
Nach welchen Kriterien werden die zahlreichen Awards beim Festival vergeben?
Die fünf Wettbewerbe werden von uns gemeinsam aus einem Pool an vorgesichteten Filmen kuratiert, die uns über einen thematisch offen gehaltenen und international ausgesendeten Call for Films erreichen. Die Langfilmpreise werden dann im Rahmen des Festivals von einer jährlich wechselnden internationalen Jury vergeben und die besten Kurzfilme werden vom Publikum direkt vor Ort im Saal bestimmt. In der Auswahl der Wettbewerbsfilme suchen wir nach Filmen, die uns in ihrer kritischen und reflektierten Haltung, künstlerischen und formalen Herangehensweise sowie inhaltlichen Aktualität berühren. Hierbei geht es vor allem um Filme, die die Grenzen des Dokumentarischen ausverhandeln und die Bandbreite der Zugänge zeigen. Der finale Auswahlprozess ist mitunter mit vielen schmerzlichen Entscheidungen verbunden, weil man ja leider nicht alles zeigen kann.
Welches Programm wird es abseits der Filmvorführungen geben?
Neben dem Filmprogramm, das rund 55 Filme umfasst, setzen wir uns im Rahmenprogramm vertiefend mit dem Themenschwerpunkt »Hauntings« auseinander. Die Keynote-Lecture als traditioneller Auftakt und Einstieg in das Schwerpunktprogramm eröffnet das Festival und lädt das Publikum ein, sich intensiver mit der Materie der kommenden Festivaltage auseinanderzusetzen. Dieses Jahr freuen wir uns, Jacqueline Nsiah begrüßen zu dürfen, die in der diesjährigen Ausgabe auch ein Filmprogramm kuratiert. Neben zahlreichen Filmgesprächen mit internationalen Filmemacher*innen im Kino können Festivalbesucher*innen und Filmemacher*innen sich auch bei Workshops, Filmtalks, einer Masterclass sowie anderen Diskussionsformaten austauschen. Zum gemeinsamen Feiern laden wir am Eröffnungsabend und zur Preisverleihung ins Votiv Kino.
Ethnocineca findet vom 8. bis 14. Mai 2025 im Votiv Kino und Kino De France in Wien statt.