Alle Jahre wieder blickt unsere Redaktion auf die popkulturellen Highlights der letzten zwölf Monate zurück. Mit streng subjektivem Blick. Was Dominik Oswald aus 2021 besonders in Erinnerung bleiben wird, könnt ihr hier nachlesen.
À la longue wird 2021 wohl nur als Nachgeburt des Schicksalsjahres 2020 in die Geschichte der Menschheit (sofern sie überleben sollte) eingehen. Es wäre ein Anfang vom Ende – wenn jenes nicht schon längst begonnen hätte. 2021 hat die Menschheit nicht gespaltet, hat die Spaltung nur sichtbarer gemacht. Arschlöcher sind nur lauter geworden.
Auch die (österreichische) Musiklandschaft ist laut geworden, zuvorderst in ihren Veröffentlichungen, live war ja eher mau. Es entstanden wunderbar lautstarke Werke, Mahnmale gegen das Schweigen, Aufrufe voller Wut. Gleichsam auch leise und dafür eindringliche Lieder. Und auch viele Lieder, die einfach nur Spaß machen sollen. Lieder und gleich ganze Alben, die 2021 geprägt haben.
Top 10 Singles / Songs des Jahres
10. Ozan Ata Canani – »Alle Menschen dieser Erde«
Erst 2021 erscheint das Debütalbum von Ozan Ata Canani, der seit Ende der Siebziger als Schnittmenge zwischen türkischer Community und deutscher Mehrheitsgesellschaft weitgehend unbeobachtet bleibt. Der beste Song ist dieser hier, tanzbar, rockig und gegen Ende ganz schön virtuos.
9. Anna Mabo – »Das Fahrradschloss«
Der österreichische Pop ist ja an sich eher nicht unbedingt arm an traurig-verliebten Befindlichkeitsballaden, im Frühjahr gelingt Anna Mabo mit dieser Vertonung vom Vermissen in den ulkigsten Momenten ein kleiner Geniestreich. Zärtliches Erinnern an andere Menschen aus anderen Zeiten, mit dem Gewissen, dass es schon gut ist, wie es jetzt ist.
8. Danger Dan – »Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt«
Spätestens 2021 hat endgültig gezeigt: Es macht keinen Sinn mehr, mit ihnen zu diskutieren. Wer die Watschengesichter einmal vor seiner Tür marschieren hat sehen, kann kein Mitleid mehr haben oder es aus klassismuskritischen Gründen auf das fehlende Bildungsniveau schieben. Danger Dan hat für all die aufgestaute Wut eine großartige Hymne geschrieben – und gemacht, was sich für einen echten Danger gehört: für Gefahr gesorgt.
7. Ja, Panik – »Apocalypse or Revolution«
Gleich mit Neujahr setzt die wieder zusammengefundene Gruppe den folgenden zwölf Monaten eine Präambel – mit sphärischer Stimmung und klarem Anklagen. Mit einer Glaskugel nostradamischen Ausmaßes stellen sie die Grundsatzfrage dieser Generation: Entweder geht alles den Bach runter oder wir ziehen den Karren aus dem Dreck. Tendenz: Apocalypse.
6. Ernst Molden & Der Nino aus Wien – »Kenig«
Ernst Molden war in den letzten Jahren sicher einer der produktivsten Künstler*innen in Österreich. Dass sein nun noch umfassenderes Œuvre aber keinesfalls an Qualität einbüßt, zeigt diese sanfte Folkballade aus dem Kollaborationsalbum »Zirkus«, das viel Raum zur Interpretation lässt und gleichzeitig unheimlich nahbar ist.
5. Voodoo Jürgens feat. KMT – »Taunzn«
Der gute alte Voodoo zeigt mit diesem gar sommerlichen Lied ein seltenes Kunststück der Text-Musik-Schere: Der vorrangig gut tanzbare Hit, mit dem er sich stimmlich gar sehr an den Ostbahn Kurti der 80er anschmiegt, ist tief im Inneren eine feministische Hymne gegen den Male Gaze, das Angraben auf der Tanzfläche, wenn den grindigen Hawis der Sabber und die Bierfahne aus dem Maul fäult.
4. Kahlenberg – »Hahnenkamm«
Im Allgemeinen ist »Wiener Zucker« von Kahlenberg ein äußerst empfehlenswertes Album geworden, der Smash-Hit »Hahnenkamm« ist ein moderner Indie-Klassiker mit dem topmodernen Appeal eines alternativen Schlagers. In Wortwitz fast unschlagbar ist die Hymne auf die Dekadenz ein subversives Stück gegen die selbst ernannte Elite. Oder wie Ludwig Hirsch dereinst schrieb: »Mir war jede Schickeria immer wurscht / Nur bei einer wird mir schlecht / Bei dieser Jodelschickeria / Verpackt in eine Lodendekadenz.«
3. Dry Cleaning – »Scratchchard Lanyard«
Auch das so geliebte Genre des Postpunk hatte 2021 seine großen Highlights: Das größte davon kommt von der britischen Hype-Band des Frühlings Dry Cleaning, die mit ihrem Album »New Long Leg« und insbesondere mit der Lead-Single »Scratchcard Lanyard« unwiderstehlich lakonisch vorgetragenen Gesang und tanzbar-treibende virtuose Gitarrenmusik vereint. »Funfact«: Das wiederholte »Do everything feel nothing« ist einer Tampon-Reklame entnommen. Denk da mal drüber nach! Do everything feel nothing.
2. Paul Plut – »B320«
Dem Plut Paul ist wieder ein großartiges Album gelungen. Am eindrucksvollsten ist daraus »B320«, benannt nach der einzigen Straße, die aus einer verlorenen Jugend und der Gefahr des Aufwachsens am Land führt. Hoffnung und gleichzeitig Angst und Respekt. Einfach und gleichzeitig unheimlich dicht in der musikalischen Inszenierung und mit für Plut typischer melancholischer Textierung, die aus den Banalitäten des Alltags großartige Erinnerungen schafft, die man selbst nie hatte.
Einschub: Honorable Mentions (alphabetisch gereiht)
Fritzi Ernst – »Trauerkloß«
International Music – »Raus ausm Zoo«
Kreisky – »Abfahrt Slalom Super-G«
Kurt Prödel feat. Fritzi Ernst – »Jeder Mensch ist faszinierend«
Swiss – »Linksradikaler Schlager«
1. Roy Bianco & Die Abbrunzati Boys – »Giro«
Ein »Geständnis« – eigentlich bin ich stolz! – an dieser Stelle: Roy Bianco & Die Abbrunzati Boys ist meine Lieblingsgruppe der letzten beiden Jahre. Das Debüt aus dem Vorjahr »Greatest Hits« hat mich abgeholt wie meine Mutter nach dem Fußballtraining, die absolute Hit-Single »Giro« tut dies noch eindrucksvoller. Sehnsuchtsbläser bis nach Trieste, Tanzbarkeit bis nach Rimini und ein transportiertes Lebensgefühl, das rund um den Globus und zurück nach Bella Italia reicht. Es ist mit Abstand der größte Pop-Moment des Jahres.
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