Nicolette Krebitz hat mit „Wild“ einen großartigen Film gemacht, der seine Hauptfigur so ernst nimmt, wie seine Anliegen und auch selbst Konventionen über Bord wirft. Ein Interview.
„Wild“ verpackt sein großes Thema, seine kraftvollen Bilder und Sujets sowie die bewusst, aber nicht billig, provokanten Details in einen schlüssigen und stringenten Film. Ania wohnt in einer deutschen Großstadt – mit Job und Umfeld, aber ohne echten Anschluss. Die Begegnung mit einem Wolf, löst eine Wandlung aus: Ania beginnt ihren eigenen Wünschen und Instinkten zu folgen, missachtet und verlässt immer weiter gesellschafftliche Konventionen. Sie holt den Wolf in ihre Wohnung, nähert sich ihm an. Lange haben diese Ausbrüche und Handlungen, die sich weigern gewohnte Muster zu perpetuieren, für sie und ihre Umwelt auch negative Folgen, lassen jemand unbefriedigt oder in mancherlei Hinsicht verletzt zurück.
Der Film erzählt dabei eine umgedrehte Wolfskind-Geschichte. Ania kommt aus der Zivilisation und verlässt diese im Laufe des Films immer weiter. Sie wird aber auch immer selbstbestimmter. Nicolette Krebitz findet dafür beeindruckende Bilder, nutzt die Musik, Farben und Kinobilder. Und sie schreckt nicht davor zurück Sexualität zum Thema zu machen und ins Bild zu rücken. Auf ein schlaue Weise, die viel zu selten zu sehen ist. Ihr gelingt damit eine starke Position im deutschen und internationalen Kino, die fast analog zum Thema des Films an der Fortführung von Bekanntem kein Interesse zeigt und Räume öffnet.
In seinem Furor und seiner Kompromisslosigkeit kann man "Wild" durchaus auch als den bessern Nicolas Winding Refn sehen. Zwar weniger visuell übersteuert und rein ästhetisch zurückhaltender, aber das Personal ist ebenso getrieben und die filmemacherische Position ist ebenso kraftvoll. Nur gelingt Krebitz dies komplett ohne der inhaltlichen Dummheit von Refn – und man muss dafür nicht einmal ihre Interpretation und ihre Sicht der Dinge teilen.
Inwieweit lässt sich „Wild“ als stringenter, umgedrehter Genrefilm sehen? Als Umkehrung einer klassischen „Wolfsmädchen“-Geschichte – aus der Zivilisation, in die Wildnis?
Nicolette Krebitz: Ja, natürlich ist das auch ein Spiel auf den ausgetrampelten Pfaden und Wegen der Filmgeschichte. Man kann aber auch der Frage nachgehen, warum die Geschichte zur Zeit der Veröffentlichung des „Wolfsjungen“ damals in dieser Richtung verlief, warum man erzählt hat, wie ein Mensch domestiziert wird, und warum es vielleicht heute interessant ist, das Gegenteil zu erzählen. Da ist man mit dem Film an dem Punkt, wo eine Ordnug auf den Kopf gestellt wird – und das war mir ein Bedürfnis.
Macht das die Stringenz des Film aus?
Wenn man über den Trieb nachdenkt oder ihn beschreiben wollte, könnte man sagen, er entwickelt einen Sog. So wie man nach einem triebgesteuerten Erlebnis erwachen und sich wundern kann, was nun alles geschehen ist. Das wollte ich im Film, im Rhythmus und auch in den Bildern gerne übernehmen.
Im Film gehen für Ania sehr lange ihre Aktionen nicht immer auf, sind für sie und andere negativ oder unbefriedigend. Erst am Ende, wenn es denn das Ende ist, scheint alles final positiv und gelöst. Ich war lange nicht sicher, ob der Film so positiv endet.
Das ist vielleicht die Sorge um die Figur, ob der Preis, den sie – für das, was sie unbedingt wollte – zahlen muss, am Ende nicht zu hoch wird. In allen Filmen der Filmgeschichte war es bis jetzt ja auch so. Frauen müssen für ihre Befreiung büßen. Für mich ist der Film ab dem Moment, in dem die Protagonistin dem Wolf begegnet, eine Erfolgsgeschichte. Vielleicht verhindert ein "zu viel darüber nachdenken" aber die soghafte Wirkung, die der Film auf die haben kann, die in der Lage sind, sich auf die Geschichte einzulassen. Ich glaube, „Wild“ erzählt tatsächlich etwas Neues, auch etwas, vor dem wir uns fürchten. Aber es gibt ja eigentlich niemanden, der nach einem Abenteuer sagt, ich habe alles auf diese eine Karte gesetzt und es war ein Fehler, ich hätte es nicht tun sollen. Meistens sind einem genau diese Momente im Leben sehr wertvoll und man bereut eher, was man nicht getan hat.
Ich hatte in der ersten Hälfte des Films das Gefühl, es geht außer bei Ania nicht um konkrete Figuren und Menschen, sondern es wird Anias allgemeines Unbehagen gezeigt.
Ich empfinde ihr Leben „vor dem Wolf" als unbeteiligt oder passiv, sie lässt die Dinge irgendwie geschehen. Es ist ein Nicht-Eingreifen und dann auch nicht berührt werden. Das Büro, in dem sie arbeitet, ist gerade so konkret genug, um zu verstehen, dass dort das Leben verkauft werden soll – aber niemand lebt selber. Eine mögliche Vergangenheit der Protagonistin wird gestreift, aber wir steigen zu einem Zeitpunkt in die Geschichte ein, wo sich alles verändert. Die Schwester zieht weg, der Großvater stirbt. Zum einen ist das natürlich traurig, auf der anderen Seite schafft es neuen Raum, der selbst gestaltet werden kann. Auf dieser Ambivalenz reitet Ania in ihre Zukunft, die anfangs tatsächlich ungewiss erscheint.
Bei den Bildern sind mir die Tücher im Wald stark im Gedächtnis geblieben. Der Übergang wenn die anfänglich reduzierten Bilder, stärkeren Sujets weichen.
Die Welt bis dahin ist eher unspektakulär gehalten. Nach der Begegnung mit dem Wolf werden dann mehr und mehr die Sinne gefüttert, man schaut überhaupt zum ersten mal in ihr Gesicht, die Farben verändern sich und das Tempo. Aber auch ihre Handlungskraft. Sie beginnt, die Dinge in die Hand zu nehmen. Je näher sie dem Wolf kommt, desto mehr werden die Regler hoch gedreht. So ist es in der Liebe.
Sie haben in Interviews immer wieder betont es geht nicht um die Opposition von Natur und Mensch. Das sehe ich auch so, tue mir dann aber schwer den Wolf einzuordnen.
Die Natur, die am Ende des Films gezeigt wird, ist keine Natur im herkömmlichen Sinne, sondern eine vom Menschen gemachte und veränderte. Sie sieht auch ein bisschen utopisch aus oder so, als wäre es ein anderer Planet – also eher Natur im Donna Haraway-schen Sinne. Ich bin damals dahin gefahren, als dort die ersten Wölfe in Deutschland gesichtet wurden und fand das sehr passend. Die Wölfe erobern sich ein Land zurück, das mittlerweile anders ist. Und genau das fasziniert mich an ihnen, die Welt verändert sich, sie passen sich an, aber bleiben trotzdem immer sie selber.
Kein zurück zur Natur also und dann wird alles gut. Es geht um die eigene Natur, was das überhaupt ist und wieviel Platz wir ihr lassen.
"Wild" startet am 22. Juli in den österreichischen Kinos. Eine Empfehlung.