Ruinen sind keine Cupcakes und dürfen sich trotzdem großer Beliebtheit im Internet erfreuen. Das hat mehrere Gründe, und Porno ist nur einer davon.
Ist das noch gut oder kann das weg?
Der dritte Ansatz ist ein inhaltlicher: Heuer, wo sowohl die olympischen Winterspiele in Sarajewo 30 Jahre, die Sommerspiele in Athen zehn Jahre vorüber sind, Sotschi und die letzte WM in Brasilien noch frisch in der Erinnerung liegen, machen Bilder von kaputten oder verlassenen olympischen Stätten, deren Bau massenhaft Geld verschlang und verschlingen wird, wieder verstärkt die Runden in den Medien. Oft weisen die Headlines in die Zukunft und fragen zu Recht: soll das so weitergehen? Das Interesse an modernen Ruinen ist hier so etwas wie eine Neuinterpretation oder Weiterführung des einst so wichtigen Memento mori – (Denk‘ an den Tod) – Gedankens.
Während der Blick in die Ruinen der Vergangenheit in früheren Jahrhunderten oft die eigene Sterblichkeit bewusst machen wollte, weisen solche Bilder in die Zukunft, im Angesicht von falscher Planung und Misswirtschaft kann auch ein Bewusstsein dafür entstehen, was heute schief läuft. Leere Flughäfen im Nirgendwo, unbewohnte Planstädte, Protzbauten ohne Sinn entstanden gerade durch die jüngste Weltwirtschaftskrise am laufenden Band.
Dort darf man vielleicht auch eine soziale Komponente ansiedeln – denkt man zum Beispiel an die Räumung der Mühlfeldgasse 12, besser bekannt als Pizzeria Anarchia, hierzulande, oder an das jahrelange Tauziehen um die Rote Flora in Hamburg, sind es nicht zuletzt die Bilder, die es immer wieder schaffen, Menschen über Gentrifizierung oder Immobilienblasen nachzudenken zu lassen. Noch dazu ändert sich unsere Wirtschaftsweise. Trotz einer schwachen Reindustrialisierung verschwinden viele Geschäfte, Warenkreisläufe werden ins Netz verlagert. Ruinen von Industrie-, Kaufhaus- oder Fun Park-Komplexen erinnern uns nicht zuletzt daran, wie sehr sich unser Alltag in den letzten 20 Jahren verändert hat.
Detroit, Hashima, Internet
Diese drei Schubladen funktionieren in der Realität natürlich nicht annähernd so gut wie auf dem Papier. Und schon gar nicht funktionieren sie im Internet, wo Bilder – völlig unabhängig von ihrer Intention – in die verschiedensten Kontexte kopiert und so verbreitet werden. Wie schwierig es ist zu trennen, zeigt das Paradebeispiel für urbane Ruinen, Detroit, wo man jetzt ein iPhone gegen ein Haus tauschen kann. Die einst so glänzende Motor City wurde zu mehr als eine von Krisen und Blasen gebeutelten Stadt – sie wurde zum Symbol eines bröckelnden Amerika und damit zur Projektionsfläche für die unterschiedlichsten Besucher und Betrachter.
Die postapokalyptischen Szenerien locken sowohl Urban Explorer als auch auf industrielle Ruinen spezialisierte Profifotografen an, die ästhetische oder auch alarmierende Bildbände produzieren. Auf der einen Seite begann sich gerade das Hinsiechen der einstigen Industrievorzeigestadt zu verkaufen und junge, kreative -und nicht ganz unwesentlich – weiße Menschen – aus dem Ausland und dem Rest Amerikas anzuziehen, die eine Art Sehnsuchtsort vorfanden, eine Tabula rasa mit ganz viel Aura, aus der man schöpfen konnte. Moderne Caspar David Friedrichs mit Nikes an den Füßen. Dann die – nicht wenigen – Menschen, die Hochzeitsfotos in heruntergekommenen Lagerhallen in Detroit machen lassen – der klassische Fall von angewandtem Shabby Chic. Porno und Romantik, das mischt sich in Detroit besonders pikant.
Popkultur
Und natürlich üben Ruinen auch einen starken Magnetismus auf Filme, Songs, Bücher oder Zeichner aus. Wer aber glaubt, dass es in der Fiktion einfacher ist, hat weit gefehlt. Man nehme zum Beispiel "James Bond Skyfall", der als nur einer von zahlreichen Filmen Industrieruinen in Szene setzt. Die japanische Insel Hashima, die bis in die 70er Jahre zum Kohleabbau genutzt und von einem Tag auf den nächsten komplett verlassen wurde, dient als Schauplatz des Treffens zwischen Bond und seinem Opponenten Silva.
Für den Dreh von "Skyfall" wurde die Insel im Studio nachgebaut. Xavier Bardem (Silva) spricht in einem Interview davon, dass es sich trotzdem "echt" anfühlte; unangenehm, isoliert, trotzdem mit der Aura vieler Menschen. Die ruinöse Insel spiegelt in ihrer Imposanz dabei den größenwahnsinnigen und kaputten Charakter Silvas perfekt wieder; aber sie unterstützt auch den ganzen Film in seinem Leitthema, die Vergangenheit zu bewältigen. Auch hier: Projektionsfläche, wo das Auge hinblickt. Dass es zu der echten Insel einen Fotoband – von einem der Fotografenkollektive, das auch einen Bildband zu Detroit herausbrachte – gibt, dass touristische Bootstouren um die verfallene Insel herum veranstaltet werden und ja, dass auch Google mit der Streetview-Cam schon dort war und Einblick in die verlassenen Gebäude gewährt, wundert da schon gar nicht mehr.
Bilder von Ruinen sind deshalb so spannend, weil sich von politischem Mahnmal bis Shabby Chic, vom romantischen Sehnsuchtsort bis zum mahnenden Memento mori, von Pop bis Kultur, von Porno über Pädagogik bis Nachhaltigkeit alles aus ihnen heraus- und in sie hineinlesen lässt. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Manchmal alles gleichzeitig. Und damit sind sie perfekt geeignet für den einen großen Sehnsuchtsort unserer Generation: das Internet.
Eine Fotostrecke von modernen Ruinen findet sich hier. Da geht es zu einem kurzen Abriss über verschiedenen Typen von Ruinen in der Popkultur. Die Autorin auf Twitter zerstören kann man hier: @oidaamira