Eitrige Mythen

Wird über den Würstelstand gesprochen, braucht man nicht lange auf Klischees zu warten. Ein neuer Bildband lenkt den Blick auf Aspekte, die sonst vor lauter Käsekrainer-Nostalgie oft übersehen werden.

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Der Heurige, das Kaffeehaus, das Wirtshaus: Zur klassischen Dreifaltigkeit der Wiener Geselligkeit gesellt sich seit Längerem der Würstelstand, dem mittlerweile eine Aura anhaftet, die bisweilen an den Wien-Kitsch grenzt. Das häufigste Wort, das in Reiseführern zum Würstelstand zu lesen ist, lautet »Kult«, in Kreativkreisen ist es schick geworden, einen Lieblingsstand zu haben, passende Anekdoten von Zilk bis Falco gehören zum Repertoire neuerer Wiener Geschichtsbewältigung.

Das ist doch einigermaßen erstaunlich, weil es sich beim Würstelstand nicht nur um ein sehr spezielles architektonisches Konstrukt handelt, sondern ebenso um ein kulturelles. Denn den Würstelstand gibt es nicht – zumindest noch nicht lange (und schon gar nicht in Reinform). Vor 200 Jahren verkauften die sogenannten Bratelbrater ihre Würste über die Gasse oder bei Verkaufsständen, später zog man beheizte Kessel mit einem Handwagen zu den belebtesten Plätzen der Stadt, im 20. Jahrhundert dann ganze Wägen, aus denen heraus Würstel verkauft wurden, wenn auch noch ohne fixen Standort. Erst in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts wurden Genehmigungen für feste Würstelstände erteilt, heute existiert nur noch ein Stand in Wien (Ecke Mariahilferstraße/Amerlingstraße), der regelmäßig mit dem Traktor hin- und abtransportiert wird. Einen Alt-Wiener Würstelstand gab es also nie, außer man würde pseudorustikale Kunststoffhütten der 70er und 80er Jahre dazuzählen. Der allseits bekannte Würstelstandsprech (Eitrige, Buckel, 16er Blech etc.) ist im Übrigen ebenso eine Erfindung neueren Datums wie die Anbetung der Käsekrainer. Nicht umsonst lautet der Titel von H.C. Artmanns 1983 erschienenem Prosaband »Im Schatten der Burenwurst«. Denn diese und andere Kochwürste wurden früher am häufigsten konsumiert, wie auch eine Speisekarte des Würstelstandes Leo am Währinger Gürtel aus dem Jahr 1928 verrät. Neben Würsten konsumierte man dort übrigens harte Eier, Äpfel, Orangen und Bananen, aber keinen Alkohol. Die heute so beliebten Käsekrainer wurden erst in den 1980er Jahren erfunden.

70 Prozent Käsekrainer

Es sind die sich ändernden Konsumgewohnheiten, die sich deutlich in der Gestaltung der Würstelstände spiegeln. Darüber weiß Gregor Schuberth einiges zu berichten, hat der Architekt doch gemeinsam mit seiner Schwester, der Architektin Johanna Schuberth, unter anderem den stadtbekannten Würstelstand bei der Albertina entworfen. »Die gegrillte Käsekrainer macht heute in Innenstadtlagen oft schon 70 Prozent des Wurstkonsums aus. Das hat Folgen auf die Gestaltung, Grillplatten und Fritteuse beanspruchen deutlich mehr Platz als früher und ziehen aufwändige Abluftanlagen nach sich.« Heute seien die Stände wie kleine Restaurants, in denen alles auf kleinstem Raum unterzubringen sei.

Und wie bei den Großen haben sich auch hier Baumaterial und Erscheinungsbild geändert: Edelstahl hat Einzug gehalten, große Glasflächen sind heute auch wärmetechnisch kein Problem mehr. Der Kunde will Transparenz. Während früher die Würste aus einem verborgenen Kessel gefischt wurden, grillt man heute bei den neuesten Ständen vor den Augen der Konsumenten, das gesamte Warenangebot wird wie in der Auslage präsentiert. Gegen den Begriff eines Designer-Würstelstandes würde sich Schuberth wohl wehren: »Das alles ist weniger eine Frage des Stils. Planerisch einzugreifen, heißt hier vor allem, das Innenleben zu organisieren und technische Anforderungen zu ordnen, sonst wird das hübscheste äußere Kleid am Ende nicht gut passen. Bei den Baubesprechungen sind mindestens so viele Firmen anwesend wie bei einem mittleren Wohnhaus.«

Angesichts der Vielzahl von Würstelständen und sonstigen Buden (rund 600 gibt es davon in Wien) ist es einigermaßen verwunderlich, dass die Stadtplanung das omnipräsente »Stadtmöbel« kaum beachtet hat. Neue Genehmigungen gibt es zwar so gut wie keine mehr, aber auch keine gestalterischen Vorgaben, und das ist vermutlich besser so. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich Baubehörde, Marktamt und Magistratisches Bezirksamt diesbezüglich einigen würden, ist gering. Nichtsdestotrotz kritisieren manche Lokalpolitiker den »Wildwuchs«, so etwa Ursula Stenzel, die Bezirksvorsteherin des 1. Bezirks, der am Schwedenplatz vor lauter ästhetischen Sünden – hauptsächlich »fremder« Imbissbuden – offenbar der Schauer über den Rücken läuft.

Junkspace

Der schicke Würstelstand bei der Albertina und seine Nachahmer an anderen Plätzen sind tatsächlich die Ausnahme. Das Gros der Stände bietet einen wilden Mix aus Funktion und Form, Nostalgielook und Schäbigkeit. Gerade das macht aber den besonderen Reiz aus – zumindest für Sebastian Hackenschmidt, Möbelkurator am MAK und Designspezialist, und den Fotografen Stefan Oláh. Städtische Randthemen liegen den beiden offenbar am Herzen: Vor zwei Jahren haben sie ein vielbeachtetes Buch über Tankstellen in Wien herausgebracht, das sich in Museumsshops bis Amerika und Asien verkauft. Nun folgte der Band »Fünfundneunzig Wiener Würstelstände – The Hot 95«. Es sind nicht die Design-Aspekte, die Hackenschmidt und Oláh so besonders interessieren, sondern die Spannung zwischen den anonymen Hütten und ihrer städtischen Umgebung: In manchen Fällen schmiegen sich die Buden an historische Bausubstanz, dann wiederum scheinen sie sich als kleine Häuser behaupten zu wollen und ecken im wahrsten Sinne des Wortes an. Während Gregor Schuberth dem Würstelstand eine typologische Nähe zum Strandkiosk zuschreibt, vergleicht ihn Hackenschmidt mit anderen Stadtmöbeln wie Bushaltestellen oder Telefonzellen und fasst sie mit dem Begriff »Junkspace« zusammen, den Rem Kohlhaas geprägt hat.

»Dass eine so ephemere Architektur so beständig sein kann, hat uns fasziniert«, so Hackenschmidt. Und Oláh ergänzt: »Ich habe die Würstelstände bewusst so fotografiert, als wären sie große Architektur. Es sind alle Jahreszeiten drinnen, aber eben kaum Menschen und keine Milieus.« Das Buch bringt jedenfalls ein häufig zitiertes Klischee des Würstelstandes ins Wanken: die angebliche Gemütlichkeit. Auf Oláhs Fotos kommt eher der Charakter des schnellen Imbisses zutage, Hackenschmidt spricht von »Nicht-Orten«, eine Bezeichnung, die vom französischen Anthropologen Marc Augé stammt und ursprünglich Autobahnraststätten oder Einkaufszentren charakterisiert. Orte also, die man passiert, aber an denen man sich nicht länger aufhält.

Dass es Oláh und Hackenschmidt also gar nicht um eine Beschwörung einer wie immer auch gearteten Würstelstand-Kultur ging, haben die Medien allerdings großteils ignoriert. In den Interviews rund um die Buchpräsentation wurden Autor und Fotograf als Käsekrainer-Spezialisten präsentiert – und nicht als Stadtbeobachter. »Es gab sogar Beschwerden übers Coversujet, dass es so grindig sei«, erzählt Oláh. Also doch kein Buch für kulinarische Nostalgiker? Vielleicht ist das besser so. Denn Letztere tendieren dazu, den Mythos des Würstelstandes zu bemühen, um unter anderem inländische »Esskultur« gegen ausländische Einflüsse zu verteidigen. Nicht umsonst wird bisweilen geraunt, Kebab sei der Tod des Würstelstandes. Warum nicht die Pizzaschnitte? Wenn es eine Gemeinsamkeit zwischen dem Wiener Wirtshaus und dem Würstelstand gibt, dann die Tatsache, dass beide Trends integrieren können. Oder gab es etwa schon in Alt-Wien Hot Dogs?

Sebastian Hackenschmidt, Stefan Oláh: »Fünfundneunzig Wiener Würstelstände – The Hot 95« (Pustet), www.pustet.at

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