So lässt es sich lesen

Ein paar Literaturenthusiasten in New York zeigen, wie in Zeiten von katastrophalen Ergebnissen bei PISA-Studien und Lesefaulheit Literatur auch für den normalen Menschen wieder konsumierbar wird – und wissen sich nicht zufällig in sozialen Netzwerken zu bewegen.

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Von Manhattan aus knapp über der Brooklyn Bridge haben ein paar 20-Somethings mit rund 10 Mitarbeitern ihr Büro. Electric Literature – gemeint ist die vierteljährlich erscheinende Kurzgeschichtensammlung mit zeitgenössischen Autoren – steht zwar auf dem Türschild, dahinter passiert aber noch einiges mehr. Vor ein paar Tagen erst wurde das soziale Netzwerk Broadcastr gelauncht, ein Location Based Service, mit dem man Audiofiles Orten zuordnen kann. Foursquare klopft schon sprichwörtlich bei der Tür an – der Termin sollte zwei Stunden später stattfinden. Einer der Gründer, Scott Lindenbaum, hat aber trotzdem genügend Zeit um mit mir über Lesen im digitalen Zeitalter und soziale Netzwerke zu reden.

Geschichten erzählen im digitalen Zeitalter

Scott Lindenbaum und Andy Hunter scheinen von Anfang an alles richtig zu machen: 2006 hatte Michael Cunningham (Buch- und Drehbuchautor, wir sagen nur Pulitzer-Preis und „The Hours“) am Brooklyn College das Glück, ein paar Studenten zu haben, die Lesen wieder cool machen wollten, und zwar auch für jene, die nicht Herzklopfen dabei bekommen, wenn sie eine Erstausgabe von Brecht in der Hand halten.

Die beiden taten sich mit ihrem damaligen Professor zusammen und hatten die Idee für Electric Literature. Für die erste Ausgabe der Kurzgeschichtensammlung (2010) konnten sie nicht nicht nur irgendwen gewinnen: Jim Shepard, T Cooper, Lydia Millet, Diana Wagman und Cunningham selbst veröffentlichten bereits in der ersten Ausgabe. Rick Moody, Aimee Bender, Colson Whitehead, Kevin Brockmeier und einige mehr folgten in den nächsten.

„Soweit so gut, hochqualitative zeitgenössische Literatur findet sich eh zur Genüge.“, mag sich der Lesefreund denken. Der Ansatz von Electric Literature geht aber dahin, vor allem das Genre Kurzgeschichte wieder neu aufleben zu lassen – mit Hilfe von neuen Medien und der Aufbereitung des alten Mediums Buch (im weiteren Sinne) für neuartige Devices wie Smartphones und Tablets. Jede Ausgabe gibt es günstig für alle Endgeräte und als Printausgabe, die kostensparend nach Print-On-Demand produziert wird.

In der 3. Ausgabe veröffentlichte Rick Moody seine Short Story „Contemporary Characters“ zuerst auf dem Twitter-Account @electriclit. Er war einer der ersten Autoren, die jeden Satz in der Geschichte auf 140 Zeichen oder weniger mediengerecht aufbereiteten, wobei die Tweets sowohl einzeln als auch linear zusammengelesen Lesevergnügen bereiten. Das bescherte @electriclit rund 150.000 Followers und einen Presserummel, den sie so schnell nicht wieder vergessen werden. Frage nicht, New York Times, Boston Review, Huffington Post, The New Yorker, Entertainment Weekly, MSNBC und und und würde Wolf Haas sagen.

Publishing revisited: Bezahlte Autoren, glückliche Leser

Die Storys werden nicht von den allmächtigen Herausgebern ausgewählt, sondern von einer rund 40-köpfigen Lesecrew, die für jede Ausgabe insgesamt um die 1.200 teils von Verlagshäusern vorgeschlagene teils von Autoren selbst eingereichte Kurzgeschichten liest und in mehreren Runden bewertet. Die Geschichten mit den meisten „Votes“ reüssieren.

Künste, vereinigt euch!

Geliefert wird jede Ausgabe mit einem fetzigen Cover eines zeitgenössischen Künstlers [Clayton Brothers, Fred Tomaselli (Hausgast im MOMA), Adam Cvijanovic, Aaron Johnson, Elizabeth Alison Taylor, mit Illustrationen zu den Storys und sogar animierten Filmen für die digitalen Versionen.] Passend zu jeder Ausgabe lädt Electric Literature zu Events mit DJs, bildenden Künstlern, Autoren, Filmemachern. „Es ist schade, dass die Literaten nicht mit den DJs reden, wir wollen das ändern.“

Zahlt sich das aus?

Das alles gibt es ohne Werbeanzeigen. Die Autoren werden zudem auch entlohnt: „Pro Kurzgeschichte zahlen wir 1.000 Dollar, das ist uns besonders wichtig, denn das Problem ist, dass die Autoren für die Veröffentlichung ihrer Kurzgeschichten in Magazinen oder Sammlungen meistens gar nichts bekommen.“ Ökonomischer Selbstmord von ein paar Blauäugigen? Nicht ganz, denn da kommen Twitter und Facebook ins Spiel. Mit ihren Plattformen kann ein breites Publikum erreicht werden, die auf die neuen Ausgaben aufmerksam gemacht werden. Und Qualität wird zum Glück doch noch abonniert. „Die große Frage war: Wofür verwenden wir denn dieses Internet, wenn wir Print-On-Demand nützen und unsere Ausgaben nicht online veröffentlichen? Es wurde uns klar, dass wir hier unsere Reichweite bekommen müssen, um mit dem Content an sich Buzz zu erzeugen. Jetzt haben wir also unser Publikum da draußen zu dem wir sagen können: Kauft unsere Bücher!“, erklärt Lindenbaum weiter.

Die Frage, ob es bald überhaupt noch jemanden geben wird, der Bücher kaufen wird, beantwortet Scott Lindenbaum optimistisch: „Ach, das ist das gleiche wie mit Vinyl. Das Buch wird nicht sterben. Aber Dinge wie das iPad werden Bücher dazu zwingen, schöner zu werden. Und darauf reagieren wir eben.“

http://electricliterature.com/

http://twitter.com/electriclit

http://www.facebook.com/pages/Electric-Literature/90126328010

http://beta.broadcastr.com/

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