Festivaltagebuch Ethnocineca 2023, Eintrag 2: Zwischen Dokumentation und Fiktion

Im zweiten Drittel der Ethnocineca standen eine Masterclass und ein Film auf dem Programm, die das Grenzgebiet zwischen Dokumentation und Fiktion betraten. Außerdem konnten wir einen Blick auf das Leben europäischer Saisonarbeiter*innen werfen und uns der faszinierenden westafrikanischen Voodoo-Kultur annähern.

© Laurent Van Lancker — »Nous autres«

Wir sind inzwischen mitten im Festivalgeschehen angekommen und doch ist eine Detailfrage noch nicht geklärt: Woher leitet sich eigentlich der Name Ehnocineca ab? Der erste Teil Ethno ist einfach – er bezieht sich auf éthnos, altgriechisch für Volk. Aber cineca ist nicht selbsterklärend. Auch im Gespräch mit anderen Festivalbesucher*innen bleibt die Frage nach der Namensherkunft überraschend lange ungeklärt. Erst ein Gespräch mit Martin Lintner von der Festivalleitung bringt Licht in die Sache: Beim Festivalnamen handelt es sich um die Verschmelzung von Ethnocinema und Ethnographica – eben zu Ethnocineca. If you don’t know, now you know.

Lintner hat übrigens auch den Festivaltrailer aus der gesamten Fülle der diesjährigen Ethnocineca-Filme zu einer 90-sekündigen Bildcollage montiert, die es in sich hat. Im ersten Teil des Trailers werden die Bilder von Geräuschen begleitet, die an analoge Telekommunikationstechnologie erinnern. Wir hören ein Freizeichen, ein rauschendes Radio auf der Suche nach einem Signal und das quietschende Geräusch, das Kinder der 90er-Jahre noch von den Faxgeräten ihrer Eltern kennen. Es blubbert und flimmert, bis nach 55 Sekunden die Verbindung endlich steht. Eine Frauenstimme meldet sich: »Hallo?«, sagt sie und löst damit eine audiovisuelle Kaskade aus, die große Lust auf mehr macht.

Historische Amnesie

Und zum Glück hat die Ethnocineca auch tatsächlich noch mehr zu bieten. Beispielsweise Laurent Van Lanckers Film »Nous autres – We Others«, aus dem auch das »Hallo?« für den Trailer entliehen ist. Im Film sehen wir acht Migrant*innen, die – versteckt im Laderaum eines Lkws – versuchen, illegal über die Grenze nach Europa zu gelangen. Van Lancker bedient sich hier einer für Dokumentarfilme ungewöhnlichen narrativen Form: Zum einen inszeniert er gemeinsam mit den Protagonist*innen deren Fluchterfahrungen als Reenactment. Und zum anderen lässt er sie nicht ausschließlich ihre eigenen Geschichten erzählen, sondern abwechselnd auch überlieferte Berichte von europäischen Geflüchteten, die ihre Emigrationserfahrungen Ende des 19. bzw. im frühen 20. Jahrhundert auf dem Weg nach Amerika festgehalten haben. Dadurch erzeugt Van Lancker eine unimissverständliche Parallele zwischen der heutigen Migrationswirklichkeit und jener vor über 100 Jahren.

In der Q&A-Runde nach dem Film betont der Regisseur, dass er mit seinem Film die historische Amnesie der Menschen aufzeigen möchte. Besonders wichtig sei ihm außerdem der kollaborative Prozess mit den Protagonist*innen gewesen, die sich stark in die Gestaltung des Films einbringen konnten, um ihre Geschichte möglichst wahrheitsgetreu nachzustellen. Zentral sei auch eine »strukturierte Improvisation« gewesen, durch die die Protagonist*innen in einem vordefinierten Rahmen frei agieren konnten. »Nous autres« ist ein komplexer Film, der fiktionale mit dokumentarischen Elementen verwebt und starke Empathie für Menschen mit Migrationserfahrung weckt.

Laurent Van Lancker © Peter Griesser

Masterclass im Grenzgebiet

Tags darauf gibt es die Gelegenheit, Laurent Van Lanckers Arbeitsweise in der Masterclass »At the Intersection of Documatary and Fiction« näher kennenzulernen. Die Veranstaltung im Völkerkundemuseum Wien ist so gut besucht, dass noch weitere Stühle aufgetrieben werden müssen, bevor Van Lancker beginnen kann, seinen intersektionalen Zugang zum dokumentarischen Film zu erläutern. »I don’t think in genres«, sagt der Filmemacher, der sein Schaffen am Schnittpunkt zwischen Kunst, Anthropologie und Kino verortet. Er interessiere sich sehr für unterschiedliche Formen von Erzählungen und dafür, wie diese zu den Inhalten passen, die er behandeln möchte.

Seine theoretischen Ausführungen veranschaulicht er mit zwei Filmbeispielen von Regisseur*innen, die ebenso fiktionale Elemente in ihrer dokumentarischen Filmpraxis einbringen. Zunächst sehen wir einen Ausschnitt aus Anja Salomonowitz’ Film »Kurz davor ist es passiert«, in dem Menschen wahre Geschichten von Frauen nacherzählen, die Gewalt, Ausbeutung, Nötigung und Sklaverei erfahren haben. Doch es sind keine Schauspieler*innen, die diese Berichte wiedergeben, sondern Menschen in ihren realen Alltagssituationen, in denen die nacherzählten Geschichten tatsächlich geschehen sein könnten: ein Grenzbeamter, ein Bordellbesitzer, eine Nachbarin – reale Menschen, die ein System repräsentieren, das Zwangsprostitution entweder fördert oder stillschweigend hinnimmt.

Die Protagonist*innen tragen die Erzählungen der Frauen vor, ohne dabei in deren Rollen zu schlüpfen. Sie verkörpern weiterhin sich selbst. Dadurch entsteht, was Berthold Brecht als Verfremdungseffekt bezeichnete. Die Vortragenden bieten dem Publikum keine Identifikationsfläche, weder als reale Personen noch als Darsteller*innen. Stattdessen verstören sie in ihrer Doppelrolle, erlauben so kritische Distanz und Reflexion, durch die das politische Gewissen aktiviert werden soll.

Hier werden die Parallelen zu Van Lanckers Film »Nous autres« deutlich. Auch darin erzählen Menschen Geschichten, die sie selbst nicht erlebt haben – wodurch eine starke Resonanz zwischen den historischen Erzählungen und jenen der Protagonist*innen entsteht.

Als weiteres Beispiel zeigt Van Lancker Pedro Costas Kurzfilm »Tarrafal« und spricht über das außergewöhnliche Filmschaffen des portugiesischen Regisseurs. Costa verbringt für seine Filme sehr viel Zeit mit den Protagonist*innen, um anschließend mit ihnen Szenen nachzustellen, die zwar tatsächlich passiert sind, in der Nachinszenierung aber eine neue Qualität erhalten. Auch hier vermischen sich fiktionale und dokumentarische Elemente zu einem mehrdimensionalen Narrativ.

Die Masterclass endet mit einer angeregten Diskussion, die erahnen lässt: Das Grenzgebiet zwischen Fiktion und Dokumentation ist ein fruchtbares Land für Filmemacher*innen.

Verspielt und schwermütig

Anschließend an diese intensive Beschäftigung mit verschiedenen Formen des dokumentarischen Erzählens geht es in einen Film, der in erster Linie dokumentiert, was materiell vor der Kamera passiert: »Terra in vista« von Giulia Angrisani und Mattia Petullà zeigt das Leben einer Gruppe junger Saisonarbeiter*innen, die ohne langfristige Pläne, aber mit viel Freiheit von einer Ernte zur nächsten ziehen und dabei ihrem Ideal eines selbstbestimmten Lebens nachgehen. Die Filmemacher*innen haben selbst für mehrere Jahre so gelebt, woraus bereits 2015 die Idee für den Film entstanden ist.

»Terra in vista« © Gulia Angrisani und Mattia Petullà

In vielen Groß- und Nahaufnahmen verfolgen wir den fließenden Wechsel von Freiheit und Einschränkung, Freude und Trauer, Verspieltheit und Schwermut. Im Leben der Protagonist*innen existieren diese Zustände stets nebeneinander, was viel über die Schwierigkeiten, aber auch über die Schönheiten eines auf maximale Freiheit ausgerichteten Lebens aussagt. Beim Publikum kommt »Terra in vista« jedenfalls sehr gut an, das machen die vielen Lacher während des Films sowie der anschließende laute Applaus deutlich.

Keine Angst vor Voodoo

In »The Village of Kenou« führen uns Niek Nicolaes (Regie) und Herma Darmstadt (Kamera) in eine Voodoo-Community im westafrikanischen Benin. Es ist eine poetische Dokumentation des Alltags einer Gemeinschaft, deren Leben stark von Animismus und alten Ritualen geprägt ist.

»The Village of Kenou« © Herma Darmstadt

Im Filmgespräch erklären Nicolaes und Darmstadt, dass sie schon seit vielen Jahren mit ihrer NGO in Benin aktiv sind und mit »The Village of Kenou« ihr erstes Filmprojekt umgesetzt haben. Es gehe den beiden vor allem darum, das westliche Bild von Voodoo aus der Horrorecke zu holen und zu zeigen, dass es sich dabei um eine jahrtausendealte Tradition handle, die sich vor allem dem Leben und der Heilung von Kranken widme. »We wanted to make a poem, not a spectacle«, sagt Nicolaes als Begründung dafür, dass viele für uns grausam erscheinende Rituale im Film bewusst nicht gezeigt werden. Am Ende ist zwar ein freundliches Bild der Voodoo-Kultur entstanden, aber gleichzeitig stellt sich natürlich die Frage, ob das kalkulierte Aussparen verstörender Aspekte, einer authentischen Darstellung des Gegenstandes gerecht werden kann.

Damit endet die Mitteletappe des Festivaltagebuchs und wir schauen voller Vorfreude dem restlichen Ethnocineca-Programm entgegen. Spannend wird insbesondere die Preisverleihung am Dienstagabend, bei der die Awards in den fünf Wettbewerbskategorien vergeben werden.

Das Festival Ethnocineca zeigt von 4. bis 11. Mai 2023 internationalen ethnografischen Dokumentarfilm im Votiv Kino sowie im De France.

Dieser Artikel entstand im Rahmen eines Schreibstipendiums, das die Ethnocineca gemeinsam mit The Gap vergeben hat. Die gesammelten Einträge in unser Ethnocineca-Festivaltagebuch findet ihr hier.

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