Festivaltagebuch Ethnocineca 2023, Eintrag 3: So viele Perspektiven wie möglich

Der dritte und letzte Eintrag ins Festivaltagebuch dreht sich vor allem um jene Filme, die die fünf Wettbewerbspreise gewonnen haben – und um einen persönlichen Rückblick auf acht Tage intensiver Auseinandersetzung mit dem ethnografischen Dokumentarfilm.

© Jennifer Rainsford — »All of Our Heartbeats Are Connected Through Exploding Stars«

Der Weltrekord im Filmeschauen liegt bei unglaublichen 121 Stunden und 18 Minuten. Das sind über fünf Tage nonstop. Dagegen sind die Kinonachmittage und -abende auf der Ethnocineca ein Kinderspiel. Es erfordert aber nichtsdestotrotz einen starken Willen und Durchhaltevermögen, in zwei oder sogar drei Filme hintereinander einzutauchen, ohne dabei die Konzentration – oder mehr – zu verlieren. Diese intensivierte Kinoerfahrung durch hochdosierte Filmverabreichung ist allerdings einer der Reize von Filmfestivals. Sie ermöglichen es, in kurzer Zeit eine berauschende Vielfalt an Geschichten und Eindrücken zu sammeln, die immer wieder in Erinnerung rufen, wie groß die Welt doch ist.

Passend dazu der Leitspruch der Ethnocineca: »We need to see the world from as many perspectives as possible.« Einige dieser Perspektiven stehen im letzten Festivaldrittel am Programm – einerseits bei der Preisverleihung und andererseits bei der wiederholten Projektion der drei prämierten Langfilme. Dass keiner der gekürten Filme bisher in unserem Festivaltagebuch besprochen wurde, mag etwas über die Zielgenauigkeit der Filmauswahl des Autors aussagen; es bietet aber jedenfalls die Chance, am letzten Festivaltag dreimal hintereinander eine geballte Ladung dokumentarischer Exzellenz auf der Ethnocineca zu erleben.

Moderatorin Rita Isiba bei der Award-Verleihung © Peter Griesser

And the winner is …

Zunächst werden am Dienstagabend aber die Gewinner*innen in den fünf Wettbewerbskategorien im Rahmen einer kleinen, aber feinen Preisverleihung im Großen Saal des Votivkino prämiert. Nach sechs Festivaltagen ist die Stimmung freundschaftlich-kollegial. Es wird gegrüßt, umarmt, gewunken und gelacht, bis Moderatorin Rita Isiba die Award-Verleihung der 17. Ethnocineca eröffnet. Zu vergeben gibt es drei Langfilmpreise mit einem Preisgeld von je 1.000 Euro und zwei Kurzfilmpreise, die mit jeweils 500 Euro dotiert sind.

Die Macht der Erinnerung

Begonnen wird mit dem Austrian Documentary Award (ADA), der dieses Jahr an »Cloudy Memories« von Isabella Friedl geht. Friedl ist ein sehr persönliches Porträt ihrer weiblichen Verwandtschaft gelungen, in dem sie sich auf familienhistorische Spurensuche begibt und Fragen über transgenerationale Übertragungen, die Macht der Erinnerung und familiäre Verpflichtungen aufwirft. Die Kamera wird darin immer wieder bemerkbar – wenn die Protagonist*innen direkt in sie hineinblicken oder wenn das Bild für eine Gruppenaufnahme eingerichtet wird; unmittelbare Szenen, die so manche*n vermutlich an die Ästhetik eigener Familienvideos erinnern. Indem sich Friedl auch selbst vor der Kamera zeigt, schafft sie eine authentische Intimität, die uns sehr nah an ihre Welt heranlässt.

»Coudy Memories« © Isabella Friedl

Ein Film mit Tiefgang

Im Wettbewerb um den Interntional Documetary Award (IDA) entschied sich die Jury für »All of Our Heartbeats Are Connected Through Exploding Stars« von Jennifer Rainsford. Der Film entwickelt sich vor dem Hintergrund der Tsunami-Katastrophe in Japan (2011) zu einer essayistischen Ode an das Leben und die Verbundenheit von Mikro- und Makrokosmos. Den wunderbar langsamen und flüssig geschnittenen Bildern ist anzusehen, dass sie für die ambitionierte Geschichte, die sie erzählen, mit angemessenem Aufwand vorbereitet wurden: Raffinierte Unschärfen, sanfte Lichtstimmungen und unglaubliche Naturaufnahmen schaffen eine verzaubernde Atmosphäre des Staunens. Besonders beeindruckend ist eine Sequenz, in der uns die Kamera drei Kilometer in die Tiefen des Ozeans absinken lässt und Rainsfords magnetische Stimme die »beste Geschichte aller Zeiten« erzählt – nämlich nichts Geringeres als die Entstehung unseres Sonnensystems, der Erde und des Lebens. Ein buchstäblich tiefgehender Film.

Im Rahmen des IDA-Awards erhielt zudem der grandiose Eröffnungsfilm »5 Dreamers and a Horse« von Vahagn Khachatryan und Aren Malakyan die Auszeichnung »Special Mention«.

Mutter und Sohn

Den dritten Langfilmpreis, den Excellence in Visual Anthropology Award (EVA), gewinnt dieses Jahr »Mamá – Mom« von Xun Sero. Der mexikanische Filmemacher setzt sich darin mit seiner Kindheit und dem Leben seiner Mutter auseinander, die von massiver Gewalt und Unterdrückung in einer patriarchalen Gesellschaft betroffen war. Im direkten Dialog mit seiner Mutter geht Sero der gesellschaftlich reproduzierten Gewalt gegen Frauen auf den Grund und schafft dabei das Porträt einer starken und resilienten Frau.

»Mamá« © Xun Sero

Die Jury des EVA-Wettbewerbs würdigt außerdem die Saisoniers-Dokumentation »Terra in vista« von Giulia Angrisani und Mattia Petullà mit einer »Special Mention«-Auszeichnung.

Vom Flüchten und Enden

Der International Shorts Award (ISA) wird an den Film »Game Over« von Saeed Mayahy und Miriam Carlsen verliehen, der auch gleich im Anschluss an die Preisübergabe gezeigt wird: ein bewegendes Zeitdokument von geflohenen afghanischen Jugendlichen in Istanbul, die ihre nächste Fluchtetappe nach Zentraleuropa planen. Durch den Einsatz von Handyaufnahmen der (ausschließlich männlichen) Protagonisten, steht dabei die Erzählperspektive der Geflüchteten im Vordergrund.

Der Ethnocineca Student Shorts Award (ESSA), der mittels Publikumsentscheid vergeben wird, geht dieses Jahr an »Heute mit Zucker und morgen weiß ich noch nicht – Today with Sugar and Tomorrow I Don’t Know Yet« von Annaka Minsch und Léon Melchior Hüsler. Auch dieser Kurzfilm wird nach der Verleihung vorgeführt und sorgt nicht nur bei Moderatorin Rita Isiba für die eine oder andere Träne. In 16 Minuten wird darin das Leben und Sterben im Hospiz Zentralschweiz in Luzern gezeigt. Eine behutsame und respektvolle Annäherung an die Unausweichlichkeit des Endens.

»Heute mit Zucker und morgen weiß ich noch nicht« © Annaka Minsch und Léon Melchior Hüsler

Over and out

Und damit endet auch das Festivaltagebuch zur Ethnocineca 2023. Nach elf Langfilmen, zwei Kurzfilmen, einer Masterclass und vielen spannenden Gesprächen mit Filmemacher*innen und Filmliebhaber*innen entsteht im Rückblick ein buntes, bereicherndes Bild der Ethnocineca – von dem Festival, das uns die Welt aus so vielen neuen Perspektiven sehen lässt.

Das Festival Ethnocineca zeigte von 4. bis 11. Mai 2023 internationalen ethnografischen Dokumentarfilm im Votiv Kino sowie im De France.

Dieser Artikel entstand im Rahmen eines Schreibstipendiums, das die Ethnocineca gemeinsam mit The Gap vergeben hat. Die gesammelten Einträge in unser Ethnocineca-Festivaltagebuch findet ihr hier.

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