Festivaltagebuch Ethnocineca 2025, Eintrag 1: Geister der Vergangenheit

»Hauntings« ist das zentrale Thema der diesjährigen Ethnocineca. Vom 8. bis 14. Mai sind im Votiv Kino und Kino de France eine vielfältige Auswahl an Dokumentar- und Kurzfilmen zu sehen. Bereits der Auftaktfilm entpuppt sich als Publikumsliebling.

© Maximilian Rosenberger

Ein leichter Popcornduft liegt in der Luft, Stimmengewirr erfüllt den Raum, Gruppen finden sich im Foyer des Votiv Kinos ein. Es ist der erste Tag der Ethnocineca und etwa zehn Minuten vor Beginn des ersten Films füllt sich das Kino in der Währinger Straße. Die Stimmung ist ausgelassen, auch wenn das diesjährige Dokumentarfilmfestival mit einer ernsten Keynote eröffnet wird – Jacqueline Nsiah, Kulturanthropologin und Filmkuratorin, spricht über »The Unfinished Business of Colonialism«.

Jacqueline Nsiah (Bild: Eric Gyamfi)

Ein allgemein schwieriges Thema, wie sie meint, besonders in Österreich. Ungern wird über das Erbe des Kolonialismus gesprochen. Museen voller gestohlener Artefakte, der Verlust der eigenen Geschichte, die Verinnerlichung aufgezwungener Werte und Vorstellungen – die Aufarbeitung dieser Verbrechen überlassen wir westliche Gesellschaften gerne den Betroffenen. Umso wichtiger ist eine Auseinandersetzung mit diesen Themen und sei es nur in Form eines Kinobesuchs. Denn: »Die Geister sprechen, wenn wir zuhören«

Aus der Vergangenheit lernen

»Haunted« fühlt sich auch Lidija Zelović. Die Regisseurin aus dem ehemaligen Jugoslawien bietet den Auftakt mit ihrem intimen Film »Home Game«. Darin arbeitet sie die Geister ihrer Vergangenheit auf – und wie sich Muster gesellschaftlicher Spannungen wiederholen. Es geht um Flucht, eine daraus resultierende Rastlosigkeit, Familie und das komplexe Konzept von Heimat.

»Home Game« (Bild: Lidija Zelović)

In 98 Minuten wagt Zelović den Versuch, die Parallelen zwischen dem Verfall Jugoslawiens und dem gegenwärtig aufkeimenden Rechtspopulismus aufzuzeigen. Dafür nutzt sie Videomaterial aus ihrer Zeit als Journalistin im ehemaligen Jugoslawien und eine Sammlung von Home Videos aus ihrem »neuen zweiten Leben« in Amsterdam. Der Film ist dicht. Die Zuschauenden begleiten Lidija durch ihr ganzes Leben. Sie sehen ihren Sohn aufwachsen, werden Zeug*innen der zunehmenden Polarisierung der Niederlande und erleben den jahrzehntelangen inneren Kampf der Familie mit ihrer nationalen Identität.

Mit wiederkehrenden Elementen schärft die Filmemacherin den Blick des Publikums für die Muster gesellschaftlicher Spannungen. So ist »Home Game« ein Plädoyer für Zusammenhalt. Und eine Warnung davor, die Anzeichen für Spaltung und Hass zu ignorieren. Das Publikum dankt es ihr. Für die Regisseurin gibt es im Anschluss tosenden Applaus.

Student Shorts

Visuell beeindruckend geht es am zweiten Tag des Festivals im Kino De France mit »Distant Water Won’t Quench Immediate Thirst« weiter. Der Kurzfilm des chinesischen Regisseurs Zhou Zijie spielt mit Home-Movie-Kameraführung, unterschiedlichsten Einstellungen und einer breiten Palette an Farben, während er sich, seine Familie und deren Verhältnis einfängt.

Nach seinem Studium in den USA besucht der junge Filmemacher seine Eltern in seiner Heimat im Südwesten Chinas – und stößt auf das Missfallen seines Vaters an seinen Zukunftsplänen als Dokumentarfilmer. Das Publikum erlebt einen intergenerationalen Kampf, einen Clash verschiedener Werte, gehüllt in ein Zusammenspiel aus Analogoptik und schwarz-weißen Interviewsequenzen.

Mit Werten beschäftigt sich auch der Kurzfilm von Lennart Hüper. Genauer gesagt geht es um eine jahrhundertelange Tradition, das »Schützenfest«. Der gleichnamige Film bringt das Publikum in eine beobachtende, distanzierte Position. Mit Totalaufnahmen wirft Hüper einen kritischen Blick auf die Realität der bayrischen Tradition des Schützenfestes. Dessen Exklusivität ist spürbar – sei es in Form sexistischer Kommentare durch die Mitglieder oder die jährliche Ansprache, in der ein Widerspruch zwischen dem Gesprochenen und Gesehenen deutlich wird. Es ist von einem »Wir« die Rede; einem Wir, das sich klar von Rechtsextremismus und Spaltung abgrenzt. Dass dieses Wir auf dem Bildschirm nur aus weißen Männern besteht, gibt einen Einblick in die mangelnde Diversität in konservativen Gesellschaften und deren Traditionen.

Pure Lebensfreude

Ein Bruch mit dieser cis-hetero-normativen Welt bringt der Dokumentarfilm »The Life of Sean Delear«. Die queere Postpunk-Ikone aus den USA vermachte sein Archiv an Videoaufnahmen dem österreichischen Regisseur Markus Zizenbacher, der daraus ein farbenfrohes Porträt seines Freundes schuf.

Der Film ist ein »wild ride«. Während eine weibliche Stimme die sexuell konnotierten Tagebucheinträge Seans liest, folgen die Zuschauenden dem exzentrischen Musiker durch die schillernde Clubkultur der Achtziger und Neunziger in Los Angeles. Dass Sean auf allen Ebenen von der Normativität abweicht, wird nur wenig thematisiert. Man könnte meinen, mit einer schwarzen schwulen Undergroundfigur nimmt Zizenbacher eine intersektionale Perspektive ein. Doch falsch gedacht. »The Life of Sean DeLear« ist eine bedingungslose Hommage an Exzess und Lebensfreude. Denn »Sean D« begegnete dem Leben mit einer rotzigen Selbstverständlichkeit. Wo immer er auffiel – da wollte er hin. Der Film thematisiert somit keine Scham oder mangelnde Selbstakzeptanz, sondern vielmehr die Selbstverständlichkeit einfach man selbst zu sein.

Authentizität gepaart mit Maximalismus vereint der Film »Ein Leben in Farbe« von Axel Stasny. Zur Wien-Premiere am Freitagabend ist das Votiv Kino wieder gut gefüllt, die Menschen strömen mit Popcorntüten und Bierflaschen in den Großen Saal. Das Publikum wartet voller Vorfreude auf den Dokumentarfilm über Alter und Lebensfreude sowie darüber, warum sich diese zwei Dinge nicht ausschließen.

»Ein Leben in Farbe« (Bild: Axel Stasny)

Der Film lebt von der Hauptfigur Eleanor und ihrem Hang zum Sammeln von Gegenständen. Die gebürtige Deutsche residiert seit jungen Jahren in New York, verabscheut Routinen, hat keine Angst vor Schönheitseingriffen und führt eine Beziehung zu einem jungen Kellner. Der Fokus auf ein Arsenal an Möbeln und farbefrohe Kleidung, gepaart mit dem Witz Eleanors bringt eine heitere Stimmung in den Kinosaal. Im Anschluss gibt es eine Fragerunde mit Stasny, seinem Team und auch einem der Protagonist*innen – dem besagten jungen Kellner. Die ersten zwei Festivaltage enden mit einem zufriedenen Publikum und einer ruhigen, bewölkten Nacht.

Das Festival Ethnocineca zeigt von 8. bis 14. Mai 2025 internationalen ethnografischen Dokumentarfilm im Votiv Kino sowie im Kino De France.

Dieser Artikel entstand im Rahmen eines Schreibstipendiums, das die Ethnocineca gemeinsam mit The Gap vergeben hat. Die gesammelten Einträge in unser Ethnocineca-Festivaltagebuch findet ihr hier.

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