Die neunzehnte Ausgabe des Dokumentarfilmfestivals ist zu Ende. Eine Woche lang bekamen Zuschauer*innen Einblicke in diverse Lebensrealitäten. Es bleibt die Frage: Wie viel Verantwortung tragen westliche Gesellschaften?

Ein diverses Publikum, viele Fragerunden mit Filmschaffenden und unzählige Themen aus aller Welt – das diesjährige Ethnocineca-Filmfestival stand ganz im Zeichen vielfältiger Perspektiven aus unterschiedlichen teilen dieser Welt. Im Rahmen eines Filmfestivals in einer westlichen Stadt mit vorwiegend westlichem Publikum stellt sich dabei die Frage: Welche Verantwortung tragen westliche Gesellschaften für den Zustand dieser Welt?
Unterschiedliche Realitäten
Am Donnerstag, den 8. Mai startete die diesjährige Ethnocineca und damit an genau jenem Tag, an dem man dem Ende des zweiten Weltkrieges gedenkt. Österreich lebt seit damals in achtzigjährigem Frieden und Wohlstand. Ein Privileg, das bei Weitem nicht alle Menschen trifft: Für viele sind Armut, Krieg und autoritäre Regime Teil ihrer alltäglichen Lebensrealität.
Das damit verbundene Thema Flucht greift der Film »Unsere Zeit wird kommen« von Ivette Löcker auf. Die österreichische Filmemacherin begleitet darin ein Jahr lang das Paar Siaka und Victoria. Siaka kommt ursprünglich aus Gambia, ist seit über zwanzig Jahren in Europa und arbeitet zu Beginn des Films in der Gastronomie als Tellerwäscher. Seine Vergangenheit ist geprägt von Trauma. Der Film fokussiert jedoch auf die Herausforderungen als Paar. Es geht um Rassismus, unterschiedliche Sozialisation und den Kampf um ein gemeinsames Leben in Österreich.

Durch Siakas emotionale Nacherzählungen macht der Film klar, wie tief verankert Rassismus in unseren institutionellen Strukturen ist. Außerdem zeigt er nicht nur die Schönheit Gambias mit traditionellen Bräuchen, Mandarinenbäumen und langen Sandstränden – sondern auch die wirtschaftliche Realität eines ehemaligen Koloniallandes im Kontrast zu Österreich. Wo liegt also unsere Verantwortung als europäisches Land? Können wir uns geschlossene Grenzen und ein restriktives Einbürgerungsrecht moralisch überhaupt leisten, angesichts der Tatsache, dass unser Wohlstand in Europa auf der Ausbeutung anderer Länder aufbaut? Und wenn wir schon von Ausbeutung sprechen: Wie gehen wir damit um, dass wir immer noch im Besitz zahlreicher gestohlener Artefakte sind?
Verbrechen unserer Vergangenheit
Eine besonders grausame Ausprägung dieses Aspekts ist beispielsweise die Geschichte der Mapuche. Das indigene Volk aus Argentinien und Chile erlebte unter der spanischen Kolonisierung Unterdrückung, Versklavung sowie sexuelle Gewalt. Die Gebeine mancher Mapuche liegen bis heute in Museen in verschiedenen Teilen der Welt. Diese brutale Vergangenheit thematisiert der Dokumentarfilm »Memoria Implacable« der chilenischen Regisseurin Paula Rodriguez Sickert.
Mit einer Mischung aus Total- und Nahaufnahmen taucht das Publikum darin in Schönheit der Anden ein. Doch neben rosafarbenem Himmel hinter schneebedeckten Bergen, schnaubenden Pferde und steinigen Tälern fokussiert der Film auf die Geschichte der indigenen Bevölkerung. Dafür folgt das Publikum Margarita, einer Wissenschaftlerin, die auf das Archivmaterial des deutschen Ethnologen Robert Lehmann-Nitsche stößt. Sie begibt sich auf eine Reise durch die darin beschriebenen Orte. Dabei stellt sich die Frage: Wäre es nicht unsere Aufgabe, Geschichte aufzuarbeiten, an der wir teilgenommen haben? Warum werden dreitausend Seiten Protokolle aus einem Berliner Museum erst von einer Nachkommin der Betroffenen übersetzt und finden zuvor keinerlei Beachtung? Fehlt es uns an Verantwortungsgefühl gegenüber unserer Vergangenheit?
Das Bewusstsein scheint jedenfalls zu fehlen. Oftmals brauchen wir eine Erinnerung an unsere Vergangenheit. Passend dazu teilt der Dokumentarfilm »The Last Angel of History« einen interessanten Gedanken zur kolonialen Vergangenheit Europas. In dem 45-minütigen Dokumentarfilm von John Afomfrah aus dem Jahr 1995 mischen sich Realität und Science-Fiction, während ein Datendieb mit futuristischer Metallbrille und einer Black Box durch Raum und Zeit reist. Auf seinem Trip, bei dem immer wieder Binärcode über Neunziger-Jahre PCs flimmert, begegnet er Vertreter*innen der Schwarzen Kulturgeschichte, die sich zu den unterschiedlichsten Thematiken äußern. Als es um das Thema Alieninvasion geht, bekommen die Zuschauer*innen einen interessanten Input. Darin heißt es, dass wir Menschen die Realität der Unterdrückung durch eine außenstehende Gruppe bereits erlebt haben. Denn in ein Land einzufallen, die Bevölkerung zu versklaven und die eigenen Werte aufzuzwingen: »Mehr Alien als das wird es nicht.« Optisch ist dieses Stück Schwarzer Filmkultur getaucht in die Farben Blau und Gelb und arbeitet mit schnellen Schnitten und humoristischen Timings in den Interviewsequenzen.
Bedrohliche Stille
Mit kühler Farbkomposition, einer nahen Kameraeinstellung und ruhiger Atmosphäre erinnert uns der Film »W Zawieszeniu – In Limbo« an eine unangenehme Realität nur unweit von uns. Regisseurin Alina Maksimenko zeigt darin den Alltag in ihrem Elternhaus im Jahr 2022 nordwestlich von Kyjiw. Im Februar 2022 trifft sie dort mit Katze und Kameraequipment ein, ursprünglich mit dem Plan ihre Eltern in Sicherheit zu bringen. Doch trotz fehlender Elektrizität und der Nähe zur Front wollen ihre Eltern bleiben. In ihrem kleinen Haus leben sie also von Tag zu Tag, füttern liebevoll die zurückgelassenen Haustiere ihrer Nachbar*innen und streiten sich über Kleinigkeiten. Mit dem Geräusch von Sirenen im Hintergrund und dem von Bomben erleuchtetem Nachthimmel erzeugt der sonst sehr ruhige Film eine beklemmende Atmosphäre – es ist der Inbegriff bedrohlicher Stille.
Der Ukrainekrieg ist eines der Themen, das die letzten Jahre immer wieder die Frage von Verantwortlichkeit aufwarf: Dürfen wir als neutrales Land die Ukraine unterstützen? Wie lange werden die USA und europäische Länder Waffen liefern? Ist es unsere demokratische Verantwortung, uns gegen einen Aggressor zu stellen? »W Zawieszeniu« erinnert uns daran, wie schnell Frieden enden kann und wie bereitwillig benachbarte Staaten eines betroffenen Gebiets dieses ignorieren. Oder wie Maksimenkos Vater sagt: »Haben die Europäer keine Angst, dass ihnen das auch passiert?«
Verlorensein
Mit »Where Can I Get Lost?« des niederländischen Anthropologen und Filmemacher Mattijs van de Port schließt sich am Ende die Klammer zur Eröffnungsrede des Festivals. Der Regisseur reist darin nach Brasilien. Dort beginnt er eine Affäre mit einem jungen Mann, erkundet seine Faszination für den Dschungel und das Konzept von Losgelöstheit. Van de Ports Liebe für Details zeigt sich in Nahaufnahmen von tropischen Früchten, Honigbienen auf roten Blüten und glänzenden Fliesen, die auf die portugiesische Kolonialisierung zurückgehen. An einem Interview mit einem Straßenarbeiter wird deutlich, wie sich die Werte von Modernisierung und Ordnung der Kolonialherrschaft auf die dortige Bevölkerung übertragen und über Generation verankert haben. Das Bewusstsein gegenüber Ausbeutung ist stets präsent: Für die Brasilianer*innen ist van de Port ein »Sextourist«. Auch wenn sich »Where Can I Get Lost?« mehr mit den Themen Queerness, Loslassen und Sinnsuche beschäftigt, kommen auch hier die Frage von kolonialem Erbe auf und wie unterschiedlich der Umgang damit sein kann.
Das Ethnocineca-Festival schafft in seinen diversen Zugängen ein umfassendes Bild jener Spuren, die europäische Länder in der ganzen Welt hinterlassen haben. Die Filme arbeiten dabei mit äußerst unterschiedlichsten Ansätzen hinsichtlich ihrer intendierten Emotionen und visuellen Darstellungen. Und sie thematisieren so die zahlreichen Kämpfe dieser Welt – persönliche, gesellschaftliche sowie militärische.
Das Festival Ethnocineca zeigte von 8. bis 14. Mai 2025 internationalen ethnografischen Dokumentarfilm im Votiv Kino sowie im Kino De France.
Dieser Artikel entstand im Rahmen eines Schreibstipendiums, das die Ethnocineca gemeinsam mit The Gap vergeben hat. Die gesammelten Einträge in unser Ethnocineca-Festivaltagebuch findet ihr hier.