Die neunzehnte Auflage des Dokumentarfilmfestivals ist in vollem Gange. Noch bis Mittwoch gibt es österreichische sowie internationale Filme zu sehen. Fazit bisher: Es ist alles eine Frage des Blickwinkels.

»We need to see the world from as many perspectives as possible«, steht auf dem Merch-Sackerl des diesjährigen Ethnocineca-Filmfestivals. Passend dazu zeigt das Festival Kurzfilme mit experimenteller Kameraführung. Außerdem mit dabei: KI-generierte Aufnahmen und Filmarchive als Mittel eines kollektiven Gedächtnisses.
Vogelperspektive und Großstadtdschungel
Trotz strahlendem Sonnenschein trudeln am Samstag, dem 10. Mai, einige Filmfans im Kino De France ein – und erleben dort zahlreiche Facetten des Kurzfilms. Dabei stellt sich die Frage: Was darf Dokumentarfilm?
Da wäre beispielsweise »Frogtown« vom österreichischen Regisseur Gerhard Treml. Dieser Kurzfilm besteht aus drei Teilen, allesamt aus der Vogelperspektive gefilmt. Jeder der drei Teile begrenzt sich auf eine fixe Einstellung, die jeweils eine karge Landschaft in Los Angeles zeigt. Währenddessen berichten Voice-Overs über die Schicksale der Protagonist*innen. Interessanter Blickwinkel, narrativ allerdings eine Herausforderung.
Verwirrung stiftet auch »Moskitos« von Susana Ojeda. Dieser beginnt mit starkem Sounddesign und einem spirituellen Ritual, bevor das Publikum in seine unwirkliche Welt eintaucht. Die Zuschauer*innen finden sich dort in einer animierten Mischung aus Wiener Innenstadt und tropischem Regenwald wieder. Die Farben hell gehalten, eine Kameraführung im Videospiel-Style und bunte Lichtpunkte gepaart mit Moskitosurren – ein sechzehnminütiges Erlebnis, das viele Fragen aufwirft. Sieht das Publikum den Film aus der Perspektive einer Stechmücke? Stehen diese stellvertretend für die Klimakatastrophe? Und wenn ja, wieso vermittelt dieser Kurzfilm kein bedrohliches Gefühl?
Koloniales Erbe
Ein Film, der narrativ ein ganz klares Ziel verfolgt ist hingegen »The Cemetery of Cinema« des guineischen Filmemachers Thierno Souleymane Diallo. Dieser greift die zentrale Frage des Festivals auf und beschäftigt sich mit den Nachwirkungen des Kolonialismus. Der Regisseur reist dabei in seine Heimat und macht sich auf die Suche nach dem Film »Mouramani« vom Regisseur Mamadou Touré. 1953 veröffentlich, gilt dieser als der erste in Guinea produzierte Film. Die Suche erweist sich als herausfordernd. Viele Menschen haben von dem Film gehört, gesehen hat ihn aber niemand. Geprägt von der Kolonialherrschaft Frankreichs begegnet Diallo in seinem Heimatland einem fehlenden Bewusstsein für die Wichtigkeit von Archiven zum Zweck der kollektiven Erinnerung.

Auch in diesem Film kommen unterschiedliche Kameraperspektiven zum Einsatz. Die Zuschauer*innen sehen einerseits Filmemacher Diallo, wie er barfuß und mit Kamera bewaffnet durch sein Heimatland wandert, um dort Archive voller Filmrollen zu durchforsten. Dazu kommen die Aufnahmen von Diallo selbst, in denen er den Alltag der Menschen in Guinea einfängt. Die zwei Perspektiven stehend stellvertretend für zwei zentrale Anliegen des Films: Die verlorenen Erinnerungen eines von Unterdrückung geprägten Landes sowie die Zukunft des afrikanischen Films.
Ist das KI?
Zurück zur Unwirklichkeit und damit zur Frage: Reicht der Hinweis auf den Einsatz künstlicher Intelligenz am Anfang eines Filmes? Oder sollten gar Szenen gekennzeichnet sein?
Glitzerndes Wasser, Buddha Feigen-Bäume, alte Fernsehgeräte und Cinemascope-Format – visuell ist »Your Touch Makes Others Invisible« von Rajee Samarasinghe ein Erlebnis. Der anfängliche Hinweis auf KI-Einsatz lässt einen aber aufmerksam werden. Was ist hier echt und was nicht? Ist das Blut, das aus dem Mund zweier Darsteller*innen fließt, KI-generiert? Oder die Archivaufnahmen, die über die Röhrenfernseher flimmern?
Dabei beschäftigt sich dieser Dokumentarfilm unabhängig davon mit einem wichtigen Thema: Es geht um die Widerstandsbewegung der Tamil Tigers auf Sri Lanka. Konkret wird das Verschwinden zahlreicher Tamilen durch das singhalesische Militär thematisiert. Ein prägender Konflikt der selbst fünfzehn Jahre nach der brutalen Repression durch die sri-lankische Regierung noch nicht aufgearbeitet wurde.
Leider passt das Tempo des Films nicht ganz, auch wenn die Interviewsequenzen das Publikum emotional abholen. Die Zuschauer*innen werden zwar mit einigen Fakten konfrontiert, doch es fehlt an Hintergrundinformationen. Man könnte argumentieren, dass diese Leere die Gleichgültigkeit der Singhalesen gegenüber der Vergangenheit ihres Landes symbolisiert. So oder so: Der Einsatz künstlicher Intelligenz »für einige wenige Szenen« ist vielleicht nicht das größte Problem dieses Dokumentarfilms.
»Genießt es«
Deutlich mehr Zuspruch bekommt dafür »Bürglkopf«. Für den Dokumentarfilm von Lisa Polster füllt sich das Votiv Kino am milden Samstagabend. Der Film thematisiert ebenso ein totgeschwiegenes Thema: Das »Rückkehrzentrum« Bürglkopf, in dem auf 1.300 Meter Seehöhe Migrant*innen zwangsisoliert werden.

Mit vielen Totalaufnahmen der malerischen Tiroler Berglandschaft und Interviews mit Asylwerbern und Ortsansässigen zeigt der Film, wie unterschiedlich ein und derselbe Ort wahrgenommen werden kann. Es kommt auf die Perspektive an. Urlaubsort und Heimat der einen wird zur persönlichen Hölle der anderen. Sensibel arbeitet der Film diesen Gegensatz heraus und kommt dabei komplett ohne Nahaufnahmen des Heimes aus – das Team bekam nämlich keine Drehgenehmigung.
Besonders einprägsam ist die Ignoranz der Dorfbewohner*innen und der Mitarbeiter*innen der Einrichtung – man solle die Zeit in den schönen Bergen doch einfach genießen. Untermalt wird dies mit Szenen eines Perchtenlaufs, unbeschwerten Schitourist*innen sowie Volksmusik.
»Bürglkopf« gibt Menschen eine Stimme, die sonst zum Schweigen gezwungen werden. Oder wie eine Mitarbeiterin des Zentrums es formuliert: »Wir würden ihnen auch niemals sagen, was sie sagen dürfen.« Besonders dieser Film unterstreicht damit das eingangs erwähnte Motto des Festivals. Mit der Auswahl an Filmen schafft Ethnocineca einen Raum, in dem diverse Perspektiven eine Stimme bekommen – ein wichtiger Beitrag, um über den eigenen Horizont hinausblicken zu können.
Das Festival Ethnocineca zeigt von 8. bis 14. Mai 2025 internationalen ethnografischen Dokumentarfilm im Votiv Kino sowie im Kino De France.
Dieser Artikel entstand im Rahmen eines Schreibstipendiums, das die Ethnocineca gemeinsam mit The Gap vergeben hat. Die gesammelten Einträge in unser Ethnocineca-Festivaltagebuch findet ihr hier.