Das postfaktische Zeitalter: Früher war mehr Wahrheit

Wird dank Trump, Brexit oder FPÖ in der öffentlichen Debatte heute mehr gelogen als früher? Jein. Die Änderungen sind tiefgreifender: Technische Entwicklungen nagen am Fundament dessen, was wir unter einem »Fakt« verstehen.

Google ersetzt Gott

Ein Faktum ist eine interpretierte und überprüfte Beobachtung. Das ist ziemlich wichtig, weil das oft fälschlich mit dem Begriff »Wahrheit« gleichgesetzt wird. Während im Wahrheitsbegriff immer eine Naturgesetzlichkeit mitschwingt, sind Fakten klare Konstruktionen. Die offizielle Inflationsrate ist definiert als Preisentwicklung eines festgelegten, fiktiven Warenkorbs. Das kann jeder nachvollziehen und überprüfen, sofern er denn die Zeit dafür hat. Das bedeutet aber nicht, dass es nicht andere Methoden gäbe, die andere Ergebnisse bringen würden. Bei Fakten geht es weniger um die Suche nach der einzigen, allgemein gültigen Wahrheit. Sondern um Aussagen, die aufgrund klarer, nachvollziehbarer und anerkannter Methoden getroffen werden. Und bei Bedarf auch anhand dieser kritisiert werden können.

Weil ich nicht alle Daten selbst erheben und interpretieren kann, gibt es in einer Gesellschaft dafür Institutionen, denen man unterm Strich zum Glück vertrauen kann. Es ist nicht so, dass die Statistik Austria oder die Professoren der Uni Wien keine Fehler machen würden. Aber die historische Erfahrung zeigt, dass sie nach klaren und nachvollziehbaren Methoden vorgehen. Institutionen zu vertrauen ist übrigens nicht gleich zurücklehnen. Es ist vielmehr ein aktiver Prozess: Man sucht sich aus, welchen Institutionen man aus welchen Gründen Glauben schenkt.

Nicht nur die tiefe Institutionenverachtung, welche die Brexit-Debatte vergiftete, zeigt: Die faktenbasierte Sicht auf die Welt gerät von verschiedenen Seiten unter Druck. Ende August sagten Innenminister Sobotka und Verteidigungsminister Doskozil in einem Interview im Magazin News zum Thema Kriminalität: Ja, es stimme, dass das Burgenland die niedrigste Kriminalitätsrate habe. Aber die Menschen würden das halt anders empfinden, weil sie früher ihre Autos nicht abschließen mussten. Ähnlich argumentieren die Republikaner um Donald Trump, wenn sie auf Zahlen und Daten angesprochen werden, die ihrer apokalyptischen Beschreibung der Vereinigten Staaten widersprechen: Das sind Zahlen, aber das Gefühl der Menschen ist ein anderes. Das ist problematisch. Politik darf die Gefühle der Menschen nicht ignorieren. Aber noch viel weniger darf sie Gefühle auf dieselbe Stufe wie wissenschaftliche Fakten stellen. Sie sind einfach nicht gleichberechtigt.

In einem Text für den New Yorker beschrieb die Historikerin Jill Lepore im März diesen Jahres, wie verschiedene altertümliche Methoden der Erkenntnisgewinnung wieder in Mode kämen. Politiker wie Trump hätten sich schon länger von der Debatte verabschiedet. Für sie ging es nicht mehr um Evidenz, sondern um Macht. Wahrheit wird nicht gefunden, sondern geschaffen. Dies sei im Grunde ein trial by combat: Wer als Letzter steht, hat Recht.

Auch ein weiteres mittelalterliches Entscheidungsformat kehre zunehmend zurück: Das Gottesurteil. Nur dass Gott in dem Fall von Google ersetzt wird. Ich habe Recht, wenn ich das sage, was unter den ersten drei Ergebnissen der Suchmaschine ist. Googeln ist ein Synonym für »Wissenssuche« geworden, die allgegenwärtige Suchmaske hat die fundierte Recherche, die Quellen aktiv wiegt, verdrängt. Ich google, also bin ich. Das wird noch einmal dadurch problematischer, dass das Google-Ergebnis von meinem früheren Suchverhalten beeinflusst wird.

Der Kern des postfaktischen Zeitalters ist nicht, dass Politiker seltsame Zahlen benutzen, um ihre Forderungen zu untermauern. Auch nicht, dass Akteure in der öffentlichen Debatte auch einfach mal lügen. Es ist eigentlich viel schlimmer. Die erkenntnistheoretischen Grundlagen der Gesellschaft werden langsam zersetzt. Es wird am Fundament dessen genagt, was wir bislang unter einem »Fakt« verstanden haben.

Haider war postfaktisch

Das Wichtigste bei allen knackigen Zeitdiagnosen ist immer, die Frage zu stellen, ob das denn früher wirklich so anders war. Gerade in Österreich. Denn es ist ja nicht so, als hätte hierzulande mit Jörg Haider nicht schon in der Prä-Internet-Zeit ein begnadeter Politiker mit Halbwahrheiten die politische Landschaft aufgemischt. War Haiders Blutschokolade nicht postfaktisch durch und durch?

Seit jeher wird diskutiert, welchen Anteil die Medien am Aufstieg Haiders hatten. Genauso wie das gerade auch in den USA mit Trump passiert. »Haiders Politikstil hat uns schlicht abgestoßen«, erinnert sich Anneliese Rohrer, die damals das Innenpolitik-Ressort der Presse leitete. »Wir hätten uns viel stärker mit seinen Aussagen beschäftigen müssen. Überprüfen, wo er falsch lag. Auch auf die Gefahr hin, dass er Recht haben könnte.« Vor allem, weil die Medien damals noch die Ressourcen dafür gehabt hätten, woran es heute oft fehlt. Auch Gerfried Sperl, bis 2007 Chefredakteur von Der Standard, sieht die These der verschwindenen Wahrheit eher differenziert. »In manchen Bereichen tut sich die Politik heute sogar leichter mit der Wahrheit, weil ihre Aussagen ständig überprüft werden können.« Es sei auch zu einfach, mit dem Finger immer nur in eine bestimmte Richtung zu zeigen. »Von der Brexit-Debatte bleibt die 350-Millionen-Pfund-Lüge. Aber man sollte nicht vergessen, dass da durchaus beide Seiten mit Halbwahrheiten gearbeitet haben.«

Die Diskussion um Haider macht zwei Dinge klar. Erstens hat es immer schon Politiker gegeben, für die Wahrheit nur Strategie war. Und zweitens sind wir heute nicht mehr in den 90ern. Im Fall Haider diskutiert man seit Jahrzehnten die Rolle der Medien. Die heutige FPÖ ist darüber längst hinaus – sie schafft sich einfach ihre eigenen.

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Bild(er) © Erli Grünzweil
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