Mit dem Projekt Ghostletters Vienna hält Tom Koch die Überreste historischer Schriftzüge im öffentlichen Stadtbild fest. Wir haben uns mit dem Grafiker über die Relevanz solcher Schriften unterhalten.
Von Kleiderreinigung ist nur mehr leiderreinigung übrig, bei Teestube fehlt das erste e und das b, ein riesige Brille erinnert daran, dass an dieser Stelle einmal ein Optiker sein Geschäft hatte: sogenannte Ghostletters, also die übriggebliebenen Reste von Schriftzügen, begegnen uns des Öfteren – vor allem in der Stadt sind sie stumme Zeugen vergangener Zeiten. Zugleich erhält das Stadtbild durch sie einen gewissen eigenen Charme und sie fügen sich zwischen neuen Schriftbildern ein. Der Wiener Grafiker Tom Koch hat sich den Gostletters Vienna verschrieben und ihnen ein Buch gewidmet. Gemeinsam mit den Fotografen Daniel Gerersdorfer und Stephan Doleschal präsentiert er detailreich die Überreste des vergangenen Wiens. Wir haben uns mit Tom Koch über das Wesen solcher Schriftzüge und den Einsatz der Crowd bei diesem Projekt unterhalten. Zudem hat er uns verraten, welche Schriftzüge typisch für Wien sind und welche Font die Stadt wohl wäre.
Was können solche Schriftzüge über die Stadt und deren Vergangenheit aussagen?
Wenn wir heute Ghostletters betrachten, sehen wir nur den letzten Teil einer oftmals bewegten Geschichte. Hinter ihrer oberflächlichen Anonymität stehen ja Persönlichkeiten und ihre Schicksale, häufig die Familiengeschichte mehrerer Generationen. Ghostletters sind immer auch der Imprint eines vergangenen urbanen Mikrokosmos. Ihre Urheber, die Schriftzüge an den Ladenfronten, kommunizierten Warenangebote oder Dienstleistungen, die „im Grätzl“ oft über Jahrzehnte in Anspruch genommen wurden. Sie spiegeln die persönlichen Vorlieben der Besitzer, typografische Moden und sozialtopografische Verhältnisse wider. Wir haben im Buch versucht anhand einiger Beispiele diese Geschichten zu erzählen.
In Wien gibt es ja ebenfalls den Verein Stadtschrift für die Bewahrung und Dokumentation von historischen Schriftzügen. Auf Instagram dokumentiert Achim Gauger ebenso Schriftzüge aus Wien. Habt ihr mit diesen zusammengearbeitet oder waren deren Arbeiten Anstoß für euer Projekt? Bzw. wie steht ihr zu deren Projekten?
Vor uns haben sich schon einige mit dem Thema beschäftigt, wir sind ja sozusagen „The New Kids On The Block“. Neben den Genannten hat Ulrich Kehrer das Stadtalphabet publiziert, Volker Plass 2014 das Buch Stadtschriften herausgebracht. Darüber hinaus gibt’s auch online einiges zum Thema zum Beispiel die „Geschäfte mit Geschichte“. Eine kleine, aber sehr aktive Community kümmert sich also um die Schriften der Stadt, und das schon seit geraumer Zeit. Umso mehr freut uns die Unterstützung, die wir von allen Beteiligten erfuhren. So hat uns der Verein Stadtschrift für die Crowdfunding Kampagne drei seiner Schriftzüge zur Vermietung zur Verfügung gestellt, Achim Gauger und Ulrich Kehrer sind mit ihren Fotos im Buch vertreten. Wir hoffen, dass durch unser Buch das öffentliche Bewusstsein für den Wert der alten Schriften gefördert werden kann und damit auch die Arbeit dieser Pioniere zusätzliche Öffentlichkeit erhält.
Konntet ihr bestimmte Charakteristika von den in Wien gefundenen Schriftzügen feststellen?
Wiener Portale zeigen oft verbundene Schreibschriften (Connected Scrips), viele von ihnen dienten ja als Aufbau für Neonanlagen. Auffallend oft ist man auch versucht, die Dinge früher zu datieren. So zeigt zum Beispiel unser Coversujet typische 50er Jahre Elemente, datiert aber aus 1963. Das lässt auf eine eher träge typografische Entwicklung schließen, in Metropolen wie London kamen zu selben Zeit bereits andere Typen zum Einsatz.
Für das Projekt habt ihr Leute einerseits durch Crowdfunding, andererseits durch den Aufruf, Schriftzüge zu melden, involviert. Was interessiert Menschen an solchen Ghostletters?
Wir waren vom Feedback völlig überrascht, im Rahmen der Crowdsourcing Aktion mit unserem Partner Wien Museum wurden uns unglaubliche 600 Fundorte gesandt. Dachten wir zu Beginn an ein Nischenprodukt, so war bald klar, dass wir an der Schnittstelle zwischen Typografie, Stadtgeschichte und kollektivem Gedächtnis viel mehr Menschen mit dem Thema ansprachen. Da spielen persönliche Erinnerungen an die Geschäfte, die Liebe zu handgemachter Typografie, Überdruss mit den zunehmend austauschbaren Stadtbildern und viele andere Aspekte eine Rolle. Jeder hat wohl seinen eigenen Zugang, aber letztendlich ist es ein Buch für alle Wiener geworden. Das war das größte Learning im Rahmen des Projektes und hat uns auch enorm angespornt.
Was waren mitunter die lustigsten Ghostletters, die ihr gefunden habt?
Wir fanden Stellen, deren Schriftzüge durch das Herabfallen einzelner Buchstaben neue Bedeutungen erhielten, wie zum Beispiel M_CH, _LEIDERREINIGUNG oder __ENGLEREI. Ein besonders charmantes Sujet ist die Tee- und Likörstube, deren hängende Buchstaben ein wenig daran erinnern, wie wohl so mancher Gast früher dort rauswackelte. Völlig abseitig sind auch die riesigen, über zwei Stockwerke zwischen die Fenster eines Hauses gezwängten Worte FLEISCH UND WURST. Da möchte ich nicht gegenüber wohnen.
Du arbeitest ja als Grafiker. Was ist eigentlich dein Lieblingsfont und warum?
Ich erhalte die Newsletter vieler Type Foundries und wäre fast täglich versucht, neue Fonts zu kaufen. So gesehen wäre es vermessen, von einem Lieblingsfont zu sprechen. Natürlich habe ich einen leichten Hang zu klassischen Fonts, nicht jede typografische Mode der letzten 20 Jahre bestand den Test of Time. Ich verwende Schriften auch gerne als verstecke Botschaften. Ein banales Beispiel: Unser Flyer zur „Night of The Signs“ ist in der PIS Wanderlust gesetzt, einem Font der Wiener Foundry „Polenimschaufenster“. Sie ist vom Buch „Die Schriften des Malers“ aus den 1950er Jahren inspiriert, wir haben Abbildungen daraus in unserem Buch. So schließt sich der Kreis. Das versteht natürlich vordergründig niemand, aber ich habe Spaß dran.
Habt ihr konkrete Pläne auch zukünftig die Stadt Wien in eure Projekte zu involvieren? Wenn ja, wie sehen diese aus?
Nach dem Buch habe ich mir eine Nachdenkpause bis Ende des Jahres verordnet. Aber da Thema wird uns wohl weiterverfolgen, sei es in Form einer Ausstellung, Interventionen im öffentlich Raum oder in anderer Form. Dabei stoßen wir aber an personelle und finanzielle Grenzen, wir haben heuer buchstäblich tausende Stunden in das Projekt investiert. Ein ganz großes Vorhaben wäre eine App, die mir zeigt wie ganze Straßenzüge vor 100, 50 oder 20 Jahren ausgesehen haben. Stell dir vor, du stehst in der Neubaugasse und siehst die Ansichten deines Standortes aus 1930, 1960 oder 1980. So etwas gibt es unserer Recherche nach weltweit noch nicht, einen kleinen Ansatz hat Hongkong mit seinen Neon Schildern bereits realisiert. Ein Projekt dieser Größenordnung lässt sich aber nur mit der Stadt Wien, dem Wien Tourismus oder ähnlichen Institutionen realisieren. Wien hat ein großes Erbe, ich denke so etwas wäre für die Wiener Bevölkerung ebenso von Interesse wie für Touristen und könnte sogar im Unterricht Verwendung finden. Wir bleiben dran.
Welcher Font wäre eigentlich Wien?
Eindeutig die Wiener Norm, jene Schrift die auf den Wiener Straßenschildern zum Einsatz kommt. Sie wurde 1923 entworfen und ist uns so vertraut, dass sie eigentlich niemandem mehr auffällt. Das charmante und wohl typisch wienerische an der Wiener Norm: Im Laufe der Zeit wurde sie von den diversen Email-Herstellern immer wieder modifiziert, heute kennen wir insgesamt 16 verschieden Versionen. Eine Schrift, die das Wort Norm im Namen führt und dabei in 16 Versionen existiert (oft in einer Straße nebeneinander) gibt’s wohl nur in Wien! Bereits 2004 wurde sie von Rudolf Horaczek digitalisiert, 2014 brachten die Wiener Typejockeys die Henriette heraus, einen gut ausgebauten Font, der von allen Versionen der Wiener Norm inspiriert ist.
Ghostletters Vienna (© Daniel Gerersdorfer)
Ghostletters Vienna (© Daniel Gerersdorfer)
Ghostletters Vienna (© Daniel Gerersdorfer)
Ghostletters Vienna (© Daniel Gerersdorfer)
Ghostletters Vienna (© Stephan Doleschal)
Ghostletters Vienna (© Stephan Doleschal)
Ghostletters Vienna (© Daniel Gerersdorfer)
Das Buch „Ghostletters Vienna“ erscheint im Falter Verlag. Die Buchpräsentation findet am Erscheinungstag, dem 20.10.2016, im Wien Museum bzw. im Club U mit den Gästen Sam Roberts (Ghostsigns Initiative), Erwin K. Bauer (Grafikdesigner und Typograf) und Dusty Sprengnagel (Neon Artist) statt. Freud wird zudem auftreten und Kurzfilme wird es ebenfalls zu sehen geben. Weitere Infos zum Projekt und der Release-Party gibt es auf der Website oder auf Facebook.