Fünf Jahre lang dokumentierten die beiden Regisseur*innen von »On the Border« den Versuch der EU, mit neuen Konzepten die Migration durch die nigrische Stadt Agadez zu lenken. Dann kam der Militärputsch.

Heute wäre es für Gerald Igor Hauzenberger und Gabriela Schild vermutlich nicht mehr möglich, in den Staat Niger und die Stadt Agadez zu reisen, um einen Film zu drehen. Am 26. Juli 2023 stürzte das Militär den Präsidenten Mohamed Bazoum – und seither hat sich das politische Klima dort nur noch weiter verschärft. Während des Putsches waren die beiden Filmemacher*innen mit ihrem Team sogar vor Ort, um beim islamischen Volksfest Bianou noch die letzten Szenen für ihren Dokumentarfilm »On the Border« zu drehen. Neun Tage danach mussten sie die Region Agadez und anschließend den Niger verlassen.
Das Ziel der beiden bestand stets darin, die Auswirkungen der Präsenz der Europäischen Union zu dokumentieren: Diese wollte im Niger neue Konzepte testen, um die innere Sicherheit nach Terroranschlägen wieder herzustellen und die sogenannte illegale Migration zu bekämpfen. Die Stadt Agadez ist nämlich ein Knotenpunkt für die subsaharische Migration. 2015 wurde ein Gesetz erlassen, das den Transport von Menschen ohne gültigen Reisepass und Arbeitsvisum für nordafrikanische Länder verbot. Die EU sprach von einer »Kooperation auf Augenhöhe« mit dem Niger. Der Staat sollte im Bereich der Sicherheit unterstützt und die Menschen, die durch das neue Gesetz ihren Job verloren hatten, eine Kompensation erhalten – schließlich hatten viele von ihnen Geld damit verdient, Menschen sicher durch die Sahara zu transportieren. Doch der Sturz des Präsidenten und die seither herrschende Militärregierung beendeten einige Jahre später diese neue Partnerschaft mit der EU. Nun sind es andere Staaten, die Interesse an dem rohstoffreichen Land anmelden.
»On the Border« zeichnet nach, wie Agadez zum Spielball geopolitischer Interessen wurde. Gerald Igor Hauzenberger und Gabriela Schild trafen ihre drei Protagonist*innen – den ehemaligen Bürgermeister Rhissa Feltou, die Journalistin Tilla Amadou und den Unternehmer Achmet Dizi – mehrmals und bauten gegenseitiges Vertrauen auf. Der Film ist auch das Porträt einer Stadt, die zwar von Armut und wenig Chancen auf Bildung geprägt ist, deren Bewohner*innen sich aber dennoch resilient geben. Im Interview mit The Gap erzählen die beiden Regisseur*innen von ihren Reisen in den Niger, von den herausfordernden Dreharbeiten und den dortigen politischen Entwicklungen der letzten Jahre.

Für euren neuen Dokumentarfilm »On the Border« habt ihr beide über einen Zeitraum von fünf Jahren mehrfach den Niger, konkret die dortige Stadt Agadez, besucht. Könnt ihr kurz skizzieren, welche Rolle Migration – ein zentrales Thema eures Films – für diese Stadt spielt?
Gerald Igor Hauzenberger: Unser Film veranschaulicht das Dilemma, dass die Bevölkerung im Niger in ihren Autonomie- und Sicherheitsbestrebungen von einer amerikanisch-europäischen Einflusssphäre in eine russische Abhängigkeit geschlittert ist. Europa hat es nicht geschafft, eine neue Partnerschaft in Westafrika aufzubauen, was zu Demonstrationen und einem Militärputsch führte. Die Putschregierung versprach wiederum mehr Autonomie für die Bevölkerung, beschloss aber hastig ein Abkommen mit Russland, China, der Türkei und dem Iran.
2015 sind über achtzig Prozent der Migrant*innen durch Agadez Richtung Europa gereist. Daraufhin beschloss Europa, vor Ort präsent zu sein. Der neue Ansatz der EU war – jenseits kolonialer Wunden –, den Niger sicherheitspolitisch zu unterstützen, ohne das Kommando zu übernehmen. Dies geschah durch die Etablierung der zivilen Organisation EUCAP. Hilfe zur Selbsthilfe war der Fokus. Nigrische Sicherheitsleute wurden ausgebildet und Fahrzeuge zur Verfügung gestellt, damit man sich gegen Kriminalität und Waffenschmuggel aus Libyen und Algerien wehren könne. Aber der Preis für die in Agadez ansässigen Tuareg war das Gesetz 0316. Dadurch wurde der Transport von Menschen aus dem Ausland ohne Arbeitsgenehmigung und ID kriminalisiert.
Gabriela Schild: Migrant*innen durften plötzlich nicht mehr nördlich von Agadez transportiert werden, obwohl dieses Gebiet noch Teil der Wirtschaftszone ECOWAS ist. Das Gesetz stand also im Widerspruch zu lokalen Gesetzen.
Hauzenberger: Agadez war seit dem Mittelalter ein Knotenpunkt für Migration und Transporte aller Art. Nun war hier Stopp für fast alle. Die EU und die UNO bauten dort ihre Institutionen auf, es wurden große Camps errichtet. Vieles kam zum Stillstand. Junge Männer, die davor mit Migration ihr Geld verdient hatten, waren nun arbeitslos. Die Bandenkriminalität stieg stark an. Bereits 2019 erzählte uns der Bürgermeister, dass die EU versprochen hatte, die Krise abzufedern, etwa durch die Vergabe von Mikrokrediten. Man wollte den jungen Männern in der Region neue Chancen bieten – aber das ist nicht passiert. Nur eine geringe Anzahl von ihnen erhielt eine Kompensation. Die politische Lage spannte sich an. Bis zu diesem Gesetz war auch die Bezeichnung Schlepper nicht geläufig. Das waren Transporteure – also ein normaler Beruf. Sie brachten Menschen oder Waren von einem Punkt zum anderen. Wer aber danach Menschen über diese imaginäre rote Linie achtzig Kilometer nördlich von Agadez transportierte, verlor sein Auto und wurde bis zu fünf Jahre inhaftiert.
Und wie seid ihr persönlich auf das Thema gekommen? Was hat euch daran interessiert?
Hauzenberger: Ich wurde durch einen Agadezien, der Wien besuchte, auf das Thema aufmerksam. Er ist ein guter Freund einer Nachbarin und erzählte mir von der Situation in seiner Heimat. Er bot mir an, mir dort eine Drehgenehmigung zu verschaffen, weil er mir die Stadt und deren Bewohner*innen zeigen wollte. 2018 reiste ich dann erstmals hin. Die Menschen waren beeindruckt davon, dass jemand sich für das Schicksal der Bevölkerung interessierte. Und sie fanden es gut, dass wir vor Ort drehen wollten, um die Bestrebungen der EU zu analysieren.
Schild: Ich stieß 2019 zum Projekt, weil Igor jemanden gesucht hatte, der fließend Französisch spricht und sich mit der politischen Situation vor Ort auskennt. Beim ersten richtigen Drehblock war ich bereits dabei, meine Aufgabe bestand unter anderem darin, den Kontakt zu den Interviewpartner*innen aufrechtzuerhalten und die Drehs vor Ort zu organisieren.

Wie erwähnt, seid ihr mehrmals in den Niger gereist, um euren Film drehen zu können. Welche Herausforderungen gab es dabei?
Schild: Die erste Herausforderung war es, eine Drehgenehmigung zu erhalten. Wir nahmen Kontakt zum dortigen Filminstitut auf, wo man sofort begeistert war von unserem Vorhaben. Meistens kommen nur Regisseur*innen von Reportagen auf sie zu, die vielleicht vier Trage vor Ort drehen. So fanden wir auch unsere Regieassistentin Amina Weira. Sie ist eine Filmemacherin aus Arlit und unterstützte uns sehr. Uns war wichtig, Leute vor Ort zu finden und kultursensibel zu arbeiten. Herausfordernd war auch die Sicherheitslage. Außerhalb der Stadt wurden wir mit einem Militärkonvoi von A nach B transportiert, durch unsere Kontakte genossen wir einen besonderen Schutz. Sonst konnten wir uns soweit frei bewegen und nah an die Menschen herankommen. Agadez war damals eine sichere und ruhige Stadt, weil auch viel Militär vor Ort war. Man vergaß schnell, dass man in der roten Sicherheitszone war. Nachts hatten wir Personenschutz. In der Stadt fühlten wir uns immer sehr sicher.
Wurde es von den Leuten vor Ort oder von anderen Kreativen als problematisch betrachtet, dass ihr als weiße Menschen einen Film in Afrika dreht?
Schild: Die Skepsis kam nicht von der dortigen Bevölkerung, sondern nur von Menschen aus Europa.
Hauzenberger: Wir waren ja ein internationales Team, das war uns wichtig. Beim dritten Drehblock sagte der Landeshauptmann Mohammad Anako zu uns: »Nun gehört ihr schon zu uns.« Das war ein großes Kompliment. In Europa war das viel schwieriger. Bereits beim Ansuchen um Förderungen wurden wir kritisiert. Gerade bei der Bevölkerung in Agadez ist der Panafrikanismus nicht so sehr relevant – im Gegensatz zur linken Szene hier in Europa. Die Menschen dort suchen immer nach Verbündeten, die sich für ihre Geschichten, ihr Leben interessieren. Daher waren wir sehr willkommen.
Schild: Außerdem beleuchtet unser Film schon ein europäisches Thema, denn unser Ziel war zu beobachten, was die EU dort macht. Ob die Versprechen gehalten werden.
Wie waren die Dreharbeiten vor Ort? Und welche Herausforderungen gab es bei der Produktion?
Schild: Wir waren immer nur für ein paar Tage in Agadez und mussten unsere Kontakte stets neu auffrischen. Zudem war es sehr heiß, meist um die vierzig Grad, und staubig – das waren wirklich harte Bedingungen.
Hauzenberger: Gabriela konnte den Drehplan meist erst vor Ort machen, zwischendurch war es schwierig, mit den Menschen zu kommunizieren, wir konnten wenig vorbereiten. Zudem mussten wir das viele Rohmaterial immer wieder sichten und schon zwischendurch vorschneiden. Von 200 Stunden mussten wir auf sechzig Stunden reduzieren, um beim Filmschnitt nicht unterzugehen. Zudem mussten wir vier Sprachen übersetzen. Für den Rohschnitt alleine brauchten wir mehr als ein Jahr.
An mehreren Stellen von »On the Border« wird die prekäre Lage der dort lebenden Bevölkerung ersichtlich. Es ist von zu wenig Bildung und beruflichen Perspektiven die Rede – vor allem für die jungen Menschen. Das ist insofern problematisch, weil der Niger die jüngste Bevölkerung der Erde hat. 69,4 Prozent der Bewohner*innen sind zudem Analphabet*innen – eine der weltweit höchsten Quoten. Auch Drogen stellen ein Problem dar. Was braucht es, um die Menschen im Niger zu stärken?
Hauzenberger: Alle Global Player versuchen im Niger einen Anker zu werfen, weil es dort so viele Rohstoffe gibt. Die Herausforderung der Regierung besteht also darin, dass Partner*innen gefunden werden, die die Menschen vor Ort unterstützen. Der Fluch der Ressourcen führt ja oft dazu, dass die Regionen ausgebeutet und ärmer werden.
Schild: Der Bruder von Ex-Bürgermeister Rhissa Feltou baut Schulen vor Ort. Er betont, dass Bildung ein Schlüssel sei und eine Hoffnung für die Bevölkerung wäre.
Hauzenberger: Er betont auch, dass die Gelder oft versickerten. Man sollte die Wirtschaft fördern und den Menschen dabei behilflich sein, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, sagt er im Film. Das ist ein weiteres Dilemma in der Entwicklungszusammenarbeit mit Europa: Die Hilfsorganisationen zahlen immer in kleinen Tranchen, oft weiß man nicht, wohin das Geld genau fließt. Hingegen bauen die Türkei und China Straßen und Flughäfen, um sich vor Ort zu verankern. Europa setzte auf Unterstützung der Sicherheitskräfte. Das blieb lange Zeit unsichtbar. Angela Merkel sprach stets von einer Partnerschaft auf Augenhöhe – aber das wird wohl nie ganz gelingen. Der Niger gehört zu den ärmsten Regionen der Welt und muss deswegen immer versuchen irgendwie an Geld ranzukommen.
Am 26. Juli 2023 wurde der damalige Präsident Mohamed Bazoum durch einen Militärputsch gestürzt. Daraufhin übernahm der Nationale Rat für den Schutz des Vaterlandes die Macht. Wie schätzt ihr beide die Lage ein?
Schild: Aktuell wäre es schwierig, eigentlich unmöglich, ins Land zu fahren oder eine Drehgenehmigung zu bekommen. Im November 2023 wurde das Gesetz aufgehoben, dass es verboten hatte, Migrant*innen durchs Land zu bringen. Das wurde in Agadez sehr begrüßt, denn es gab wieder Arbeit. Nun reisen wieder viele Migrant*innen durchs Land. Deportationen aus Algerien, einem Nachbarstaat des Nigers, sind deutlich gestiegen. Es gibt auch große Demonstrationen in den ganzen Flüchtlingslagern. Die Lage ist sehr angespannt.
Hauzenberger: Die UNO versucht zwar, Flüchtlinge in Auffanglager zu bringen, aber auch diese sind überfüllt. Die Situation hat sich also wirklich verschlimmert. Das Bestreben von ECOWAS und Afrikanischer Union, in Afrika einen freien Waren- und Personenverkehr durchzusetzen, wird immer schwieriger. Mali, der Niger und Burkina Faso haben ein neues Bündnis geschmiedet und sind aus der ECOWAS-Wirtschaftsgemeinschaft ausgestiegen. Tunesien hat neue Verträge mit Europa zur Migrationsbekämpfung aufgesetzt. Pushbacks finden dort sicherlich auch deswegen statt, weil Tunesien von der EU bald als sicheres Herkunftsland eingestuft wird.

Wie habt ihr den Putsch vor Ort erlebt?
Hauzenberger: Innerhalb von vier oder fünf Tagen nach dem Putsch waren in Agadez plötzlich überall russische Fahnen zu sehen. Später fanden wir heraus, dass es eigentlich französische Fahnen waren, die auseinandergeschnitten wurden und bei denen der blaue Balken dann unten angebracht wurde. Es musste innerhalb kürzester Zeit sehr viel Geld von Russland geflossen sein, um Demonstrationen zu forcieren. Da merkte man, wie stark die politische Einflussnahme des Putin-Regimes in Afrika ist. Bald danach gab es die Aufforderung, dass alle Europäer*innen so schnell wie möglich das Land verlassen sollten. Ich wäre ja gerne noch dortgeblieben, aber das konnte ich mit der Sicherheit des Filmteam nicht vereinbaren. Die stand an erster Stelle.
Schild: Ich erfuhr eigentlich durch einen Freund in Tirol vom Putsch, denn in den ersten Tagen bekamen wir nichts davon mit. Wir waren so beschäftigt mit dem Dreh und damit, die Eindrücke des Bianou-Festes einzufangen. Dort herrschte trotz der Massenveranstaltungen eine friedliche Stimmung.
Hauzenberger: Der Putsch fand in zwei Wellen statt: Anfangs hörte man nur, dass die Präsidentengarde den Präsidenten gefangen genommen hatte. Eine absurde Situation. Das Militär wusste anfangs gar nicht darüber Bescheid. Dann gab es Verhandlungen zwischen der Präsidentengarde und dem Militär. Und nach fünf Tagen schloss sich das Militär der Präsidentengarde an – da wussten wir: Nun wird es ernst.
Welche Länder profitieren von der neuen politischen Situation im Niger?
Hauzenberger: Russland ist komplett verankert, China baut weiter Beziehungen auf, ebenso die Türkei und der Iran. Erst musste Frankreich abziehen, danach Deutschland, schließlich ganz Europa und die USA.
Wie sind euch diese letzten Tage im Niger in Erinnerung geblieben?
Schild: Einer der schönsten Momente, die ich jemals erlebt habe, war das Bianou-Fest. Dort wird gemeinsam musiziert und gefeiert. Alle Menschen kommen zusammen, auch Migrant*innen. Für mich war das ein Bild des Friedens und großer Resilienz, die die Tuaregs auszeichnet. Es ist eine extrem arme Bevölkerung, dennoch ist ein großer Respekt für andere Kulturen in der Tradition von Agadez verankert. Es war ihnen auch egal, dass eine Ausgangssperre herrschte. Das Fest gehört einfach zur Kultur der Menschen dort. Das war für mich ein Symbol dafür, wie Frieden aus der Zivilbevölkerung, aus der Gesellschaft, aus der Kultur entstehen kann. Parallel konnte man beobachten, wie die politischen Institutionen scheiterten, aber in der Bevölkerung die grundsätzliche Toleranz und der Respekt weiter gelebt werden.
Wie geht es euren Protagonist*innen mittlerweile?
Hauzenberger: Für sie ist das alles ein totales Desaster: Tilla Amadou arbeitet nicht mehr als Journalistin, sondern eröffnete ein kleines Restaurant. Achmet Dizi musste sein Geschäft schließen. Rhissa Feltou versucht noch immer, die Zivilbevölkerung zu unterstützen, damit die Gesellschaft nicht komplett auseinanderbricht. Aber eigentlich hat er wenig Einfluss. Wir sind mit allen noch in Kontakt. Die Situation hat sich für alle Menschen dort verschlimmert. Die Bestrebungen Europas, die sogenannte »illegale Migration« zu verringern und den Terrorismus zu bekämpfen, sind vorerst gescheitert. Die ganze Region wurde zum Pulverfass und die Zivilbevölkerung leidet.
Der Film »On the Border« von Gerald Igor Hauzenberger und Gabriela Schild ist ab 13. Juni 2025 in den österreichischen Kinos zu sehen.