Zadie Smith stammt aus Nordwest-London oder kurz NW. Ihr neuer Roman »London NW« ist eine Hommage an das Stadtviertel. Gute Geschichten über eine schlechte Gegend.
Die meisten Geschäfte haben die Rollläden geschlossen. Gitter, verfallene Zäune und halbherzige Graffitis zieren beide Seiten der High Street in Willesden, Nordwest London. Genau hier spielt Zadie Smiths neuer Roman. Geht man in die eine Richtung, gelangt man in eine beinahe hübsche Wohngegend. Hier leben die besseren Leute, die sich Notting Hill nicht leisten können. Geht man in die andere Richtung und biegt in die Church Road ein, so kann man offenen Drogenhandel und gelegentlich Gewaltverbrechen beobachten. Von hier sein bedeutet von nirgendwo sein.
N-W ist die Geschichte einer Straßenecke in Willesden, der etwas unleugbar Dörfliches anhaftet. Erst tut der Roman so, als wäre er eines von diesen Büchern, in denen besonders originelle Charaktere durch eine Banalität miteinander verbunden sind, doch dann ist es umgekehrt. Es sind die Figuren, die gewöhnlich sind. Da ist Nathan, der Junkie, der nach der Schule irgendwie abgerutscht ist und Felix, der nette Junge von nebenan, der das Dealerleben hinter sich lassen will und nun Mechaniker ist.
Und dann ist da auch noch Leah, für die Willesden die Heimat ist, aus der sie nicht wegziehen will, egal ob Kriminalität und Hoffnungslosigkeit sich vor ihrer Haustüre bauschen. Die Junkies hier tricksen sie aus, wo es nur geht, und dennoch meint man sie denken zu hören: „Wir stecken da zusammen drin. Ihr und ich, die wir alle von hier sind.“
Was man wollen soll
Ihre beste Freundin Keisha, die sich nun Natalie nennt, sieht die Dinge anders. Sie ist Anwältin geworden, hat es geschafft aus Willesden herauszukommen. Der soziale Aufstieg hat sie empfindlich gemacht, wenn es um ihre windige Herkunft geht und wenn sie zurückblickt, hat sie nur Unverständnis übrig, für Menschen, die es ihr nicht gleichtun wollen. Die Freundinnen driften auseinander, in zwei Welten, die sich eigentlich nichts mehr zu sagen haben. Ihr Zuhause ist nun ein London, in dem es die täglichen Messerstechereien nicht einmal mehr in die Schlagzeilen schaffen und immer sind Täter und das Opfer namenlose junge Männer, die gerade auf dem Weg irgendwohin waren, als ihr Leben dadurch unterbrochen wird, dass der eine dem anderen ein Messer zwischen die Rippen jagt. Muss man wollen, dass sich das verändert? Leah will helfen. Natalie will nur weg von alledem.
Was man wollen soll, ist die zentrale Frage in „London NW“. Natalie ist im Handumdrehen zu einer jener Mütter geworden, die schon lange nichts anderes mehr gesagt haben als „Lass das. Stell das wieder hin. Komm her!“ Leah versichert jedem, der es hören will, dass sie auch Kinder möchte. Schließlich erwartet alle Welt von ihr, dass sie den nächsten Schritt macht. Doch in einer Schublade unter ihrer Wäsche versteckt sie einen geheimen Widerwillen.
„London NW“ ist eine Momentaufnahme der Londoner Vorstadt. Es sind die Geschichten von den Menschen, die wir täglich im Vorübergehen mit Blicken streifen und von jenen, die einfach immer an der Bushaltestelle herumzuhängen scheinen und dort auf rein gar nichts warten.
Kennen wir uns?
Zadie Smith schreibt über die Leben, bei denen keiner Regie führt. Sie haben keine Ordnung, keinen guten Anfang und nicht immer ein sinnvolles Ende. Mit verschiedenen Erzählformen verstärkt sie die Unterschiede zwischen den Figuren. Leahs Leben ist ein einziger Gedankenstrom, der mühsam zu bewältigen und nicht wenig verwirrend ist. Natalies Leben ist eine Liste, chronologisch, nummeriert und organisiert. Von ein paar anderen Leuten in der Geschichte weiß man nur, weil ständig über sie geredet wird und sie selbst kommen kaum zu Wort. Es ist als ginge man von Tür zu Tür, ohne zu wissen, was einen hinter der nächsten erwarten wird.
Obwohl den ganzen Roman über eigentlich nichts passiert, lässt das Buch einen leicht wehmütig zurück. Als hätte man die Menschen gekannt, von denen man gelesen hat und als wären sie nun fort. Dabei müsste man wahrscheinlich nur bis zur nächsten Straßenecke gehen, um sie alle wiederzutreffen.
“London NW” von Zadie Smith ist soeben via Kiepenheuer & Witsch erschienen.