Wenn dieses völlig abgedrehte, fantastisch-realistische Buch selbst noch kein Meisterwerk ist, dann zumindest die deutliche Ankündigung eines solchen.
Magischer Realismus, das muss man vielleicht kurz erklären, ist eine künstlerische Strömung, bei der die Grenzen zwischen dem real Erfahrbaren und dem wahnwitzig Unwahrscheinlichen zerbröselt werden. Plötzlich geschehen zauberhafte Dinge und magische Wesen sitzen an der Bushaltestelle ganz selbstverständlich neben einem, ohne dass sich großartig jemand fragt, wieso eigentlich. Einer der wichtigsten Vertreter, beziehungsweise der einzige Vertreter, den der Mainstream kennt, war der kolumbianische Schriftsteller Gabriel García Márquez, mit dessen Dahinscheiden letztes Jahr überdramatische Feuilletonisten auf der ganzen Welt auch den magischen Realismus für ebenso tot erklärten.
Gib der Wassernymphe deine Schuhe
Aus seiner Asche, so steht das zumindest in einigen der bisherigen Kritiken, erhob sich die Hollabrunnerin Margit Mössmer, die mit ihrem Debüt "Die Sprachlosigkeit der Fische" den magischen Realismus wieder von des Todes Schippe schubste und uns Gerda schenkte. Letztere ist eine Art unheilbare Reisende, ein Hybridwesen aus Mary Poppins und einer erwachsen gewordenen Astrid Lindgren-Figur. Sie zieht durch die kleine und die große Welt, von Bad Aussee nach Lateinamerika, nach Rom, London und Klosterneuburg und erlebt skurrile Dinge mit interessanten Menschen und Tieren. Gerda ist trotz ihres leicht altmodischen Namens eine sehr moderne Heldin, die mit feurigen Toreros schläft, die Kunst innig liebt und für die Langeweile ein Fremdwort, ja sogar beinahe ein Schimpfwort ist. Sie weiß aber auch, wann es Zeit ist, sich zu ergeben und der eben aus dem See aufgetauchten, salzverkrusteten Wassernymphe ihre Schuhe zu überlassen, wenn diese nach denselben verlangt. Fast erwartet man, dass sie gleich sagt: "Ich hasse es, wenn das passiert", so logisch erscheint die Szene.
Wenn die Dinge aus dem Gleichgewicht kommen
Das Schöne am magischen Realismus ist, dass er viel mit Disruption zu tun hat. Dieses Lieblingswort des Silicon Valley bedeutet so viel wie Störung eines bisherigen Prozesses, eine Transformation im Denken und Benehmen, irgendeine Idee eben, die alles verändert. Disruptive Ereignisse sind die Substanz von Gerdas Abenteuern, denn so mancher, dem sie begegnet, fällt gerade der Länge nach über eine unerwartete Zäsur in seinem Leben. Der vormals unbesiegbare Torero-Sexgott etwa trifft vor Gerdas Augen auf seinen stiergestaltigen Meister, was – um nicht zu viel zu verraten – nur mittelgut für ihn ausgeht. Überhaupt scheint Mössmers Heldin eine besondere Gabe dafür zu haben, Menschen genau in dem entscheidenden Moment zu begegnen, in dem irgendeine Winzigkeit bei ihnen schiefläuft oder zufällig glückt. Die Geschichten haben etwas von Improvisationstheater, in dem jede kleine Veränderung unweigerlich zu einem völlig anderen Ausgang führt.
Gleichzeitig gibt es Szenen, in denen die Disruption so lustvoll gefeiert wird, dass sie eigentlich Lehrbuchbeispiele dafür sein müssten. Da ist zum Beispiel die Sache mit der Frau, die einen Stein durch ihre Fensterscheibe auf die Straße wirft und der entsetzten Gerda erklärt, dass der Stein eine Chance ist, Wirkung zu erzielen. Klar, dass man da sofort mehr Steine braucht und sich schleunigst erhebt, um einen Vorschlaghammer zu holen. Mössmers ganzes Buch kreischt geradezu: Rechtfertige dich, reale Welt! Wer hat dir erlaubt, hier die Normen zu setzen?