In einer Ausstellung des Jüdischen Museums Wien zum Thema »Schuld« hängt eine Fotografie, die die Schuldfrage in ihrer Komplexität aufgreift und den Begriff aus der Abstraktion ins Konkrete holt.
Wir sehen zwei Körper in völliger Anspannung. Der eine gestreckt, den Oberkörper geöffnet, den Arm zum Schlag ausgeholt, sein Gewicht lastend. Der andere gebeugt, die Arme und Beine schützend vor seinen Körper gezogen, liegend, aber nach oben drängend. Es ist ein Kampf ohne Waffen, Körper gegen Körper. Ein Knie, das seinen Gegner niederdrückt; ein Fuß, der sich gegen das Knie stemmt. Verzerrte Gesichter, austretende Adern, Haut auf Haut.
Wer die beiden Kämpfenden sind, erschließt sich aus dem Bild alleine nicht. Sie tragen weder Uniformen noch sind sie anders zu erkennen gegeben. Auch Anlass und Kontext des Konflikts bleiben ohne Erklärung. Die Umgebung: anonym und verfallen. An der Rückwand bröckelt der Putz ab, die Stufen sind von wild wachsenden Gräsern und Schutt überdeckt. Nur die steinernen Fliesen des Bodens, auf dem die beiden Männer kämpfen, sind frei von Unrat. Ein Außenraum wohl, auch wenn der Abschluss im Hintergrund die Szene beengt. Die Stufen führen nirgendwohin. Insgesamt dominiert eine archaische Rohheit das Bild.
Der Speer und der Windhauch
Der Bildtitel gibt Auskunft über die beiden: Kain und Abel heißen sie. In der Erzählung bringt Kain seinen Bruder Abel um, nachdem Gott Kains Opfer verschmäht hat, jenes von Abel aber nicht. Ein Mord aus Eifersucht. Und ein provozierter Mord: wieso die Gnadenlosigkeit Gottes? Gott belegt Kain nach dem Mord mit einem Fluch und dem Kainsmal. Seine Arbeit soll von nun an ohne Früchte bleiben – die Erde, die ihn nähren soll, wird ihn nicht mehr ertragen. Doch soll niemand die Sünde, die er an seinem Bruder begangen hat, an ihm wiederholen – deshalb das Kainsmal, das ihn schützt. Die Geschichte lässt sich vielfältig lesen. Psychologisch, als Familiendrama. Metaphysisch, als Parabel auf die Ungerechtigkeit der Welt. Sogar menschheitsgeschichtlich, als Sieg der Städter über die Jäger. Denn Kain wird später die erste Stadt gründen, in der sich dann Handwerk, Arbeitsteilung und Kultur entwickeln – unsere Welt. Die Mehrdeutigkeit der Geschichte überträgt sich auch auf das Foto von Adi Nes: Tätowiert ist der, der am Boden liegt. Und wie ist die ästhetische und teilweise homoerotische Note des Bildes mit der dargestellten Gewalttat zu vereinbaren?
Adi Nes holt die Erzählung in die Gegenwart. Die Kleidung zeichnet die Männer als unsere Zeitgenossen aus. Die nahe Perspektive, die Bewegungsunschärfe der Aufnahme, die Momenthaftigkeit der verkrampften Muskeln, der Dreck des Hintergrunds ziehen die Szene aus dem Mythologischen in die Realität. Der literarische Stoff wird greifbar gemacht und zu einer Angelegenheit von Staub und Schweiß.
Adi Nes, geboren 1966 in Kirjat Gat, ist ein israelischer Fotograf. Seine Fotografien sind in der Regel inszeniert und beziehen sich in ihren Sujets und Kompositionen auf Vorbilder der Kunstgeschichte und religiöse Stoffe, stellen aber häufig Bezüge zum zeitgenössischen politischen und kulturellen Geschehen her. Die Ausstellung »Schuld« mit Adi Nes’ »Cain & Abel« ist bis 29. Oktober 2023 im Jüdischen Museum Wien am Standort Judenplatz zu sehen.
Unsere Heftrubrik »Golden Frame« ist jeweils einem Werk zeitgenössischer Kunst gewidmet. In The Gap 199 ist dies: »Cain & Abel« von Adi Nes.