Die Aktualisierung traditionsreicher künstlerischer Topoi, wie etwa des Abendmahls, stellt Künstler*innen vor die nicht leichte Aufgabe, nicht nur eine bildliche Form dafür zu finden, sondern auch die zugrundeliegende Geisteshaltung – weiter gefasst, die implizite Weltanschauung des Stoffs – zeitgenössisch zu übertragen. Katharina Mayers »Gastmahl der Freunde« bedient sich hierzu verschiedener Bildtraditionen und Interpretationen dessen, was man Gastfreundschaft nennt. Aktuell zu sehen im Dom Museum Wien.
Als die christliche Religion entstand, wurde das Gebot der Caritas noch nicht als soziale Fürsorge gedacht. Für die Speisung der Armen waren der römische Staat oder Privatpersonen zuständig. Zu nah wähnten die ersten Christ*innen das Ende der Zeit und die Wiederkehr des Messias. Erst nachdem der neue Glauben zur neuen Religion geworden und nicht mehr nur eine Reformierung des Judentums war, etablierte sich auf der Basis der neugeschaffenen Institutionen ein Auftrag, der der Seelsorge auch das körperliche Wohlergehen der Menschen zur Seite stellte.
Das Gastmahl – vor allem das christliche letzte Abendmahl – ist ein so wichtiger Aufhängungspunkt der westlichen Kultur und ein so häufig auftretendes Bildmotiv, dass es nicht schwerfällt, eine Abbildung davon als solche zu lesen. Am bekanntesten ist Leonardo da Vincis »Abendmahl« im Speisesaal der Mailänder Klosterkirche Santa Maria delle Gracie, von welchem die Fotografin Katharina Mayer vor allem die symmetrische Ordnung mit einer herausstechenden Figur im Zentrum übernommen hat. Ist es bei da Vinci eine durchgängige gerade Tafel, an der sich die zwölf Figuren drängen, nimmt sie in unserem Beispiel eine Hufeisenform an, was historisch betrachtet näher liegt. Die Römer, zu deren Zeit die Szene ursprünglich stattfand, nahmen ihre Gelage im sogenannten »triclinium« ein, liegend und um eine offene Mitte platziert, in der die Speisen gereicht wurden.
Schlafende Jünger
Im Johannesevangelium heißt es: »Es war aber einer unter seinen Jüngern, den Jesus lieb hatte, der lag bei Tisch an der Brust Jesu.« Alte Darstellungen aus dem sechsten Jahrhundert zeigen deshalb die zwölf Apostel halbkreisförmig oder an drei ums Eck laufenden Tischen gruppiert, wobei Jesus am linken vorderen Abschluss zu liegen kam, an dem Platz, der damals der wichtigsten Person vorbehalten war. Weil im Mittelalter dieser Brauch verloren gegangen war, man der Stelle bei Johannes aber dennoch gerecht werden wollte, entstanden Darstellungen, in denen Jesus ein schlafender Jünger an der Schulter lehnte. Vielleicht stellt sich Katharina Mayer in diese Tradition, wenn sie die geladenen Gäste in ihrem »Gastmahl« wie zum Schlafen übergebeugt zeigt?
Die vornübergebeugte Haltung von neun der dargestellten Figuren ist nicht das Einzige, was ungewöhnlich ist. Vier der Anwesenden haben weiße Spitzhüte auf dem Kopf, eigentlich nur zusammengerollte Bögen weißen Papiers, ähnlich der Kochhaube, die der Mann in der Mitte trägt. Sie verleihen der Szene zusammen mit dem schlafenden Habitus der Gäste und dem religiösen Tenor von Altar, Sakraldarstellungen und Eucharistie eine Atmosphäre des Verklärten und Surrealen. So erhält sich die übersinnliche Dimension der Szene auch in einem so drückend gegenwärtigen Setting wie dem hier besprochenen.
Katharina Mayer, geboren 1958, fotografiert Menschen einzeln oder in Gruppen. Ihre Bilder haben oft eine Spannung zwischen Inszenierung und Natürlichkeit, Momenthaftigkeit und zeitlicher Erstreckung. So werden die verschiedenen Ebenen des körperlich Greifbaren und geistig Subtilen in ihren Arbeiten wirksam. »Gastmahl der Freunde« (2006 / 2021) ist noch bis 27. August 2023 im Dom Museum Wien als Teil der Ausstellung »Mahlzeit« zu sehen.
Unsere Heftrubrik »Golden Frame« ist jeweils einem Werk zeitgenössischer Kunst gewidmet. In The Gap 197 ist dies: »Gastmahl der Freunde« von Katharina Mayer.