1861 präsentierte ein Physiker die erste Farbfotografie als Beweis für die Theorie der additiven Farbmischung. James Clerk Maxwell fotografierte damals gemeinsam mit Thomas Sutton, dem Erfinder der Spiegelreflexkamera, ein Stoffmuster durch je einen Rot-, Grün- und Blau-Filter und legte die Fotografien dann übereinander. Die Filmemacherin Viktoria Schmid bedient sich dieses Verfahrens, um den Geheimnissen der menschlichen Wahrnehmung auf die Spur zu kommen. »One is many«, ist man versucht zu sagen.
Wie lange das Licht der Sonne und aller anderen Sterne braucht, um sich auf das Geländer eines Balkons im 20. Stock eines Apartments in Chelsea, New York, zu legen! Und in welch kurzem Moment diese Reise im Auge der Kamera mündet! Millionen von Lichtjahren, kondensiert auf den Bruchteil einer Sekunde.
Normalerweise fängt die Filmkamera, aufgestückelt in Frames pro Sekunde, immer nur solche Momente ein, Durchschnitte durch das Kontinuum der Zeit, die keinen Moment kennt, sondern nur ewigen Fluss. Wenn dann vor der Projektionslampe Bild um Bild vorbeirattert, ist das eine Verfremdung. Die fugenlose, formlose, ausufernde Zeit wird so greifbar gemacht für das allzu menschliche Denken, dass die Dinge abgrenzen und definieren muss. Aber nicht nur im Denken müssen Menschen die Welt in verarbeitbare Häppchen stückeln. Es gibt auch ein materielles Pendant: Zapfen und Stäbchen sorgen im Auge für die separate Aufnahme einerseits der roten, grünen sowie blauen und andererseits der hellen sowie dunklen Seiten der Bilder, als die uns die Welt erreicht. Im Gehirn verbinden sich dann alle Seiten (oder Schichten) zum ganzen Bild.
Gewanderte Schatten
In »NYC RGB« von Viktoria Schmid ist nun die Synthese der einzelnen Farbspektren wieder in drei Teile aufgefächert. Je drei Aufnahmen, vom gleichen Standpunkt aus, aber unter verschiedenen Farbfiltern, legen sich übereinander. Mit den Zeitspannen, die zwischen den Aufnahmen liegen, wandert jedoch die Sonne und mit ihr Wolken, Autos und Licht. So kommt es, dass im endgültigen Bild, das im Kinosaal an die Leinwand geworfen wird, drei Zeitpunkte vereinigt sind. Ihr Signifikant ist der älteste Zeiger der Welt: der gewanderte Schatten.
Was auf den ersten Blick wie das Porträt einer Stadt wirkt, wird so zur Meditation über Wahrnehmung von Welt in ihrer Bildlichkeit und Zeitlichkeit. Es wird zur Hymne an die Komplexität und Unaufhaltsamkeit der Vorgänge, die unter unserem Blick vor sich gehen, zwar meist unbemerkt, aber von fundamentaler Bedeutung. Welch besseren Ort gibt es dafür als die Stadt, die niemals schläft. New York, New York, big city of lights …
Viktoria Schmids Arbeiten werden seit 2015 regelmäßig bei der Diagonale gezeigt. In diesem Jahr ist ihr Kurzfilm »NYC RGB« Teil des Eröffnungsprogramms (Publikumsscreening: 21. März, 20:30 Uhr, Annenhof Kino 5 und 6). Überdies ist er zweimal im Programm »Innovatives Kino 1« zu sehen: am 22. März um 10:30 Uhr im KIZ Royal Kino 2 sowie am 24. März um 21 Uhr im Schubertkino 2. Mit »W O W (Kodak)« ist eine weitere filmische Arbeit der Künstlerin – als Teil des diesjährigen historischen Specials »Finale« – bei der Diagonale vertreten (22. März, 17:30 Uhr, Rechbauerkino).
Unsere Heftrubrik »Golden Frame« ist jeweils einem Werk zeitgenössischer Kunst gewidmet. In The Gap 197a ist dies: »NYC RGB« von Viktoria Schmid.