Gott lebt! Punk ist tot?

Nina Hagen ließ sich nicht nur taufen, sie verwandelt Konzerte in Messen und missioniert den Glauben zu Gott. Julia Breitkopf hat sie nach ihrem Konzert in der Wiener Stadthalle zum Interview getroffen.

Aus rechtlichen Gründen werden Artikel aus unserem Archiv zum Teil ohne Bilder angezeigt.

Auch das noch! The Godmother of Punk, die UFO-Gläubige, die Hinduistin ist nun in den Schoß des christlichen Glaubens zurückgekehrt. Der spärlich bevölkerte Saal in der Wiener Stadthalle wird im Rahmen des queeren Kulturfestivals „Uferlos“ kurzerhand in eine Kirche verwandelt, die Missionarin zitiert aus der Bibel und die Fans finden sich als zwangsbeglückte Messgeher wieder. Statt der hinduistischen Tika, dem geklebten punktförmigen Segenszeichen auf der Stirn, baumeln heute Kreuze von Ninas Ohren. Während der Messe ziert eine blaue Stola die Priesterin in Silberleggins und schwarzem Tutu. „Ich bin eins in der Christenheit. Ich bin in Christus“, sagt sie.

Weil sie 1979 im Club 2 Frauen im Sinne weiblicher sexueller Selbstbestimmung anschaulich über Masturbation und ihre Orgasmus-Fähigkeit aufklärte, bekam sie damals in prüden Österreich TV-Verbot. Heute macht sie mit frommen Kirchenliedern von sich reden. „Jesus ist die Liebe“, „Alle Menschen werden Brüder“ sind ihre Botschaften. Wer auf den rebellischen Punk der 70er und 80er Jahre gewartet hat, wurde enttäuscht. Bis auf eine wunderbare Interpretation von „My Way“ sind die alten polarisierenden Nummern den braven Gospelsongs ihres neuen Albums „Personal Jesus“ gewichen. „Nobodys Fault But Mine“, „Take Jesus With You“, „Oh When The Saints“. Irgendwie spießig! So mancher Konzertbesucher verließ ob der Psalme, Segnungen und Hallelujas vorzeitig den Saal. Die Abtrünnigen wurden ausgiebig beschimpft und mit einem beleidigten „All You Fascists Bound to Lose“ bedacht. Die 55-jährige Sängerin scherte sich nie um Konventionen und Erwartungen und verbiegt sich auch den Fans zuliebe nicht.

Ihre kürzlich erschienene Autobiografie „Bekenntnisse“ ist ein Glaubensbekenntnis mit religiösen Weisheiten und erzählt, wie sie schon in frühester Kindheit durch gläubige Tanten und ein Nahtoderlebnis Gott kennenlernte. Allumfassend dominiert Religion jede Phase ihres Lebens. Nina Hagen ist eine Gläubige auf der Suche nach Geborgenheit. Sie glaubt mit Glitzer-Haut und Haar-Teilen, sie liebt vollkommen. Das wen und was ist veränderbar und wäre vielleicht gar nicht so entscheidend, wenn sie ihre Überzeugungen nicht fortwährend zur Mission erkoren würde. Ihre Mission ist ihr Kampf für eine Atomwaffenfreie Welt, für eine Welt voll Liebe und Freiheit. Riskierte sie einst noch für außerirdische Lebenwesen ihren Sitzplatz auf Sandra Maischbergers Couch (ARD) so will sie heute von UFOs und Hindu-Gurus nichts mehr wissen. Damit wäre sie nun beim Mainstream-Glauben angelangt. „Für mich ist Gott einer, der im Himmel sitzt, über die Liebe nachdenkt und mit den anderen himmlischen Musikern Lieder singt.“, so Hagen.

Nina Hagen masturbiert heute nicht mehr öffentlich, weil es in einer sexualisierten Gesellschaft keine/n mehr provozieren würde. Nina wäre nicht Nina, wenn ihre Hingebung zu Gott, ihr Nonnenhaftes Leben ohne Sex, nicht auch Provokation wäre. So kann es kein Zufall sein, dass in Zeiten der Missbrauchsfälle und Kirchenaustritte die Provokateurin sich der Kirche annimmt. Nina Hagen mit der großartigen Stimme, die ewig Missverstandene, die „Verrückte“, die „Verwirrte“. Die nur als verrückt gilt, weil sie in keine Schublade passt. Das ist auch der Grund, sie immer noch zu lieben. Nina ist auch heute noch sie selbst, eine starke Persönlichkeit, die ihre Überzeugungen bis an die Schmerzgrenze überzeichnet. Eine, die gegen den Strom schwimmt, auch, oder gerade weil sie auf Kritik stößt.

„Ich glaube, dass man das bisschen Scheiße und Böse, das es gibt, weglieben kann.“, sagt Nina. „Love never fails“ signiert sie in ihr Buch. Möge man Nina Hagen so sehr lieben, dass sie auch für die Gottesfürchtigen wieder unbequem wird und dass ihr der Spagat zwischen Heiliger und Hure besser gelingen möge als bisher. Gott lebt! – Punk ist tot? „Punk is Amazing Grace in a stinky rotten place“, meint Nina und fügt hinzu: „Das sagt mein Zahnarzt auch immer!“ – Gott sei Dank, Nina Hagen! Wir wollen wieder mehr Gestank und weniger Heiligenschein. That´s why the Lady is a Punk!

Newsletter abonnieren

Abonniere unseren Newsletter und erhalte alle zwei Wochen eine Zusammenfassung der neuesten Artikel, Ankündigungen, Gewinnspiele und vieles mehr ...