I Must Be Jesus

Gene, Jesus & St. Martin – wir baten Ex-Gene Sänger Martin Rossiter anlässlich des Erscheinens seines herzzerreißenden ersten Soloalbums “The Defenestration Of St Martin“ zum Interview.

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Die Band Gene ist vielleicht noch einigen an britischer Popmusik der 90er Jahre Interessierten ein Begriff, ein Quartett rund um Sänger Martin Rossiter, das sich 1993 in London gegründet hat, um im Fahrwasser von Bands wie Oasis, Blur oder Pulp die Welt zu erobern. Von namhaften Musikblättern wie NME und Melody Maker in den Himmel gelobt, erschien dieses Vorhaben zunächst gar nicht so unwahrscheinlich, und bald gab es für die junge Band erste Charts-Platzierungen in ihrer Heimat.

Doch im Gegensatz zu Bands, die im Britpop-Boom Riesenerfolge feierten, ging es für Gene im Laufe der Jahre mit den Verkäufen bergab. Nach vier großartigen Studioalben löste sich die Band 2004 auf. Trotz treuer Fangemeinde und meist ausverkaufter Konzerte, blieb Gene also der ganz große Erfolg verwehrt. „Zu Unrecht“, wie Martin Rossiter natürlich meint, den wir nach seiner langjährigen musikalischen Abstinenz und anlässlich des Erscheinens seines herzzerreißenden ersten Soloalbums “The Defenestration of St Martin“ zum Interview baten …

Martin Rossiter: Das ist fast eine rhetorische Frage, da kannst du eigentlich jede Band fragen. Denn der Sinn, Musik zu machen, liegt darin, die Musik zu schreiben, die man liebt. Wenn man nicht davon überzeugt ist, die beste Band der Welt zu sein, erfüllt man eindeutig nicht seinen Job. Also natürlich bin ich der Meinung, wir hätten mehr Platten verkaufen sollen. Wobei ich verstehe, warum wir es nicht taten.

Du verstehst es?

Ja, ich denke, wir sind der Demokratie innerhalb des Bandgefüges zum Opfer gefallen. Wenn Kevin, Matt, Steve oder ich selbst federführend gewesen wären, hätte jeder einzelne von uns mehr Platten verkauft. Es war möglicherweise ein gesunder Kompromiss, aber wenn man sich unsere Singles ansieht, waren wir schwerer zu definieren als andere Bands dieser Zeit. Wir haben in der einen Minute “Fighting Fit“ herausgebracht, in der anderen “Speak To Me Someone“, das hat die Leute verwirrt (Rocksong versus Ballade, Anm.). Leider leben wir in einer Zeit, in der man Musik mit fünf Worten beschreiben können muss, sonst wird sie sich nicht verkaufen.

Doch genau das mochte ich an Gene.

Absolut, unsere Fans mochten die Band genau aus diesem Grund. Ich sage ja nicht, wir wären besser gewesen, ich sage nur, wir hätten mehr Platten verkauft.

Vielleicht war es auch schlechtes Timing, da zu dieser Zeit gerade der Britpop-Boom eingesetzt hat?

Stimmt (lacht), als Oasis das Land eroberte.

Wie beurteilst du Gene heute, fast zehn Jahre nachdem sich die Band aufgelöst hat?

Ich höre die Platten oft, ich habe kein Lieblingsalbum, aber eine Liste von etwa zehn bis zwölf Lieblingssongs, die die gesamte Band-Karriere umfassen. Ich blicke gerne zurück und denke, sie sind das Produkt und mein Beitrag zu dieser Ära. Ich muss mich für nichts schämen. Einige Sachen liebe ich sehr, Songs wie “Save Me I’m Yours“ oder “Is It Over“ vom letzten Album werde ich mir anhören, bis ich ins Grab steige, vielleicht noch danach.

Gab es einen speziellen Moment, der dazu führte, Gene aufzulösen?

Es war meine Entscheidung, als es begann, nostalgisch zu werden, und das wollte ich nie. Wir brachten “Libertine“ 2000 heraus, und es war erstmals bei Liveshows der Fall, dass die Leute nur Songs von den älteren Alben “Olympian“ und “Drawn To The Deep End“ hören wollten und weniger an unseren neuen Sachen interessiert waren. Und das, obwohl “Libertine“ klar unser bestes Album war. Deswegen beschloss ich, die Band aufzulösen, ich wollte nicht wie Status Quo oder die Rolling Stones werden.

Zwischen dem Gene-Abschiedskonzert 2004 in London und dem Erscheinen Deines Soloalbums sind acht Jahre vergangen, warum hast Du beschlossen, gerade jetzt ein Album herauszubringen?

Der Grund war, dass ich Menschen um mich herum jahrelang fast bis zum Wahnsinn damit gelangweilt habe, indem ich immer wieder nur erzählt habe, ich würde ein Album machen, so dass ich es schließlich in die Tat umgesetzt habe.

Du hast dein Album selbst aufgenommen und ohne Plattenfirma über die Plattform PledgeMusic veröffentlicht. Sind Plattenfirmen heutzutage weniger wichtig?

Nein, ich musste realistisch denken, ein 42 Jahre alter Mann, der in einer Band war, die viele als B-Klasse Band bezeichnen würden, wäre vermutlich nicht wahnsinnig attraktiv für die meisten Plattenfirmen gewesen. Dazu noch der Umstand, dass es ein Album nur mit Klavier und Stimme werden würde. Und die ehrliche Antwort ist, dass mich niemand unter Vertrag nehmen wollte. Ich wäre begeistert davon gewesen, wenn sich 15 Plattenfirmen um mich gerissen hätten, aber das war einfach nicht der Fall. Ich hoffe nur heimlich, dass es manche von ihnen nun bedauern.

War es auch wichtig für dich, die Kontrolle über alles zu haben?

Sehr wichtig, ich musste es nach meinen Vorstellungen machen. Ich habe einen Punkt in meinem künstlerischen Leben erreicht, an dem ich ein Album herausbringen wollte, bei dem ich an jede einzelne Note glauben kann. Ich höre es mir öfter an als jedes andere Album, und nach einer Weile erkennt man den Wert darin. Wenn man Platten macht und Songs schreibt, sollte man die Fähigkeit entwickeln, etwas zu schreiben, in das man sich selbst verlieben würde. Ich musste das beste Album der Welt machen, für mich, und ich denke, das ist mir gelungen, es ist mein absolutes Lieblingsalbum.


Das Album klingt sehr persönlich, sehr intim, vor allem, was die Texte betrifft, ist das 100% Martin Rossiter?

Oh Gott, ja. Ich denke nicht, dass es jemanden auf der Welt gibt, der ähnlich mürrisch drauf ist wie ich. Das bin ich, nackt und verletzt.

Einige Songs sind wirklich schwer verdaulich, etwa “No One Left To Blame“, wo es um unerfüllte Liebe, Schmerz und sogar Selbstmord geht.

Nun (lacht), sagen wir so, es ist nicht Frühstücks-TV Material. Und glücklicherweise wird mich niemand nackt sehen wollen, aber es mag ein paar Leute geben, die mich unverhüllt hören wollen.

Der erste Song auf dem Album “Three Points On A Compass” handelt von deinem Vater?

Ganz offensichtlich, es ist ein Song, von dem ich hoffe, dass er ihn gehört hat. Ich hasse diese Mythologie, die Songwriting umgibt, man hört ständig: „du kannst das für dich selbst interpretieren“. Ich denke, dass das Blödsinn ist und nur eine Entschuldigung für Leute, die zu faul oder unfähig sind, zu schreiben. Ich bin froh, dass jeder, mit dem ich über dieses Album gesprochen habe, weiß, wovon jeder Song handelt.

Auf PledgeMusic schreibst du über das Album: “Some of these words will undoubtedly make you cry.” Das kann ich unterstreichen. Wie geht es dir selbst, wenn du dir dein Album nun anhörst?

Manchmal fällt es mir noch schwer, das gesamte Album anzuhören, was okay ist. Wer sagt, dass Popmusik leicht sein muss? Es ist eine wundervolle Kunstform, deren Potential die wenigsten Menschen nutzen, da sie der Meinung sind, dass sie nur der Unterhaltung dient. Dabei kann Popmusik viel mehr sein. Und ich versuche in meiner bescheidenen Art zu zeigen, dass es nicht seicht sein muss. Es muss nicht immer Girls Aloud sein.

Obwohl deine Songs generell sehr traurig sind, haben manche doch auch eine ironische Seite, etwa “I Want To Choose When I Sleep Alone“, wo du deine Seele an den Teufel verkaufst.

Das passiert eigentlich im Wochenrhythmus (lacht).

In einem anderen Song, “I Must Be Jesus“, vergleichst du dich und dein Leid sogar mit Jesus Christus.

Ich denke, da habe ich mir selbst einen schlechten Dienst erwiesen, mein Leid ist viel schlimmer, denn ich habe nicht zwölf Männer um mich herum, die mir sagen, wie wundervoll ich bin.

Für mich gibt es nur einen Song auf dem Album, der ein wenig positiv anmutet, “Drop Anchor“, sticht dieses Lied für dich heraus?

“Drop Anchor“ ist vergleichsweise euphorisch, zumindest bis zum zweiten Vers, wo wieder alles schiefgeht. Aber ja, es ist ein Liebeslied, zumindest glaube ich das, ich habe schon gehört von diesem Ding namens Liebe.

Du hast nur davon gehört?

Oh, jetzt werde nicht zu persönlich (lacht). Ich mag schon mal damit in Berührung gekommen sein.

War es geplant, ein Album nur mit Klavier und Stimme zu machen?

Ja, von Beginn an. Ich spiele Klavier, daher habe ich begonnen, damit Songs zu komponieren. Wenn man etwas nur mit Klavier und Stimme präsentiert, gibt es nichts zum Dahinter-Verstecken, noch weniger als bei einer Gitarre. Also müssen die Songs, mit denen du arbeitest, brillant sein. Daher ging ich sehr gewissenhaft an die Sache ran, bevor ich mit den Aufnahmen begann. Dieser Prozess hat mich als Songwriter gestärkt, in allen Techniken, über die sonst niemand in Interviews redet. Einen Akkord ausufern lassen, entscheiden, welche Moll-Tonleiter man verwenden wird, all die Kunstfertigkeit von Songwriting. Und es hätte sich fast wie ein Verrat angefühlt, wenn ich auf einmal auf die Idee gekommen wäre, einen Schlagzeuger, einen Gitarristen, einen Bassisten, einige Keyboards und vielleicht Bläsersätze zu addieren, das hätte die Verletzlichkeit der Songs zerstört.

Wie unterscheidet sich das Songwriting von heute zu damals, bei Gene?

Ich muss mich mit niemandem streiten.

Wer hat bei Gene die Songs geschrieben?

Das ist eine sehr interessante Frage (pausiert). Ich habe jedes Wort und jede Note geschrieben. Aber ich möchte nicht die Beteiligung anderer Personen abtun, das wäre unwahr und unfair.

Triffst du dich noch mit den anderen Gene-Mitgliedern?

Nein, das ist eine lange Geschichte, die ich für meine Memoiren aufspare, die keiner lesen wird.

Also kann ich mir die Frage nach einer möglichen Gene-Reunion ersparen.

Ich denke, das kannst du selbst beantworten, oder? Ich musste einfach vorwärts gehen, das ist mir wichtig. Ich würde eher ein Album machen, das neun Leute kaufen als Gene wiederzubeleben.

Aber ich denke, dein Album haben nun schon mehr als neun Leute gekauft.

Ja, dafür, dass eigentlich keiner mehr Platten kauft, lief es ganz okay. Natürlich hätte ich gerne mehr verkauft, ich werde mir nun nicht meine erste Yacht kaufen können. Aber ich brauche Leute, die meine Platte kaufen, um eine weitere machen zu können.

Planst Du schon ein nächstes Album, vielleicht ein Band-Album?

Was es nicht sein wird, ist eine traditionelle 4-Mann-Band, das würde mich langweilen. Mehr weiß ich selbst noch nicht genau, doch es gibt einige Ideen und ich habe bereits zu schreiben begonnen.

Es gibt nur einen Song auf dem Album, der Schlusssong “Let the Waves Carry You“, wo in den letzten Takten eine Band einsetzt. Wenn du live spielst, trittst du solo auf oder mit Band?

Nein, nur ich und ein Pianist.

Wirst du auf Tour gehen?

Ich habe einige Shows gemacht und wir werden noch einige machen, voraussichtlich im Mai. Ich werde oft gefragt, wann ich nach Mexiko, Indonesien, Chile etc. komme, aber im Moment kann ich mir das nicht leisten. Selbst wenn ich nach Wien kommen würde, würde ich Geld verlieren. Wir haben noch nicht den Punkt erreicht, dass genügend Leute die Platte kennen. Wenn ich zumindest kostendeckend aussteigen könnte, würde ich’s machen.

Zum Schluss noch drei kurze Fragen. Erinnerst du dich an die erste Platte, die du gekauft hast?

Ja natürlich, sehr genau (euphorisch). Es war “Up The Junction” von Squeeze, eine lila Vinyl-Platte. Ich habe sie bei HMV in Cardiff gekauft, als ich acht war. Sie ist sehr wertvoll und ich besitze sie immer noch, eine wirklich gute Platte.

Gibt es einen Künstler, den du bewunderst bzw. einen, mit dem du gerne einen Song aufnehmen würdest?

Smokey Robinson, aber das kommt vermutlich nicht in Frage. Ich glaube Bob Dylan nannte ihn den größten amerikanischen Poeten, das einzig Wahre, das Dylan je gesagt hat. Also ja, Smokey!

Gab es einen Punkt, an dem du wusstest, dass du professioneller Musiker werden willst?

Als ich noch ganz jung war, war ich überzeugt davon, dass ich entweder gekreuzigt oder Astronaut werden würde. Aber als ich etwa elf war, habe ich mich in Adam Ant verliebt. Ich war von ihm besessen und wollte sein wie er, es ist also seine Schuld, dass ich Musiker wurde.

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