In Jörg Schellers Buch »Metalmorphosen« wird Heavy Metal wissenschaftlich aufgearbeitet

Als nicht zu unterschätzender Wirtschaftsfaktor ist Heavy Metal mittlerweile fixer Bestandteil des Mainstreams. Berichte über das Wacken Open Air oder Metal-Kreuzfahrten zählen zum massenmedialen Standardprogramm. Beleuchtet werden dort – klarerweise – immer nur Teilaspekte. Das Genre bietet aber noch viel mehr Stoff für (wissenschaftliche) Analysen, wie auch Jörg Scheller, Professor für Kunstgeschichte an der Zürcher Hochschule der Künste meint. In seinem Buch »Metalmorphosen« arbeitet er sich philosophisch, musiktheoretisch und historisch an den »unwahrscheinlichen Wandlungen des Heavy Metal« ab. Eine wahre Berg- und Talfahrt.

Vorab: Ein allumfassendes und vor allem allgemeingültiges Buch über Heavy Metal zu schreiben, ist schlichtweg unmöglich. Seit den späten 1970ern, als sich in Großbritannien um Bands wie Black Sabbath, Motörhead, Def Leppard, Iron Maiden, Saxon oder Judas Priest aus dem Begriff New Wave of British Heavy Metal (NWOBHM) eine Genrebezeichnung für Musik, die weder Punk noch Hardrock war, entwickelte, hat sich ungemein viel getan.

Einerseits gibt es mittlerweile unzählige Subgenres und andererseits hat sich die Metal-Szene globalisiert. Während Heavy Metal in liberalen und (pseudo-)säkulären Demokratien heute ein akzeptiertes Musikgenre ist, werden Metal-MusikerInnen in anderen autoritären Systemen nach wie vor verfolgt. Auf diese Heterogenität geht Jörg Scheller im Buch auch laufend ein, doch trotzdem tappt er manchmal in die Falle von vermeintlich allgemeingültigen Aussagen.

Metal-Liberalismus

Scheller sieht das Metal-Genre im Kapitel »Heavy Metal is the Law. Metal und Politik« in der Tradition des klassischen angloamerikanischen Liberalismus nach Adam Smith, John Locke, John Stuart Mill und John Rawls. Er meint damit nicht, dass alle Metal-MusikerInnen (und Fans) liberal seien, sondern das Metal »zwar formale und ästhetische Anforderungen stellt (Härte, Schwere, Intensität, Monumentalität etc.), nicht aber moralische, weltanschaulich-ideologische Leitplanken errichtet«.

Das klingt nach einem Freibrief für all jene Metal-ProtagonistInnen, die sich in der diffus-unpolitischen Grauzone bewegen, für die Extremismus nicht ganz so problematisch ist, solange dieser nicht ein gewisses (verbotenes) Ausmaß annimmt. Im Metal ist das vor allem deswegen möglich, weil sehr viele Bands klare Statements vermeiden und auf einer abstrakten Ebene Dinge beschreiben. Die Deutungshoheit liegt dann bei den Fans. Im Vergleich zu Hip-Hop oder Hardcore/Punk ist Metal aber unpolitisch, wie auch Scheller an anderer Stelle, als es um Kooperationen zwischen (sozialkritischen) Hip-Hop-Artists mit Metal-Bands geht (u. a. UTFO/Anthrax, Public Enemy/Anthrax, Run-D.M.C./Aerosmith), durchaus eingesteht: »Metal erscheint als eskapistischer Budenzauber auf dem Jahrmarkt der Rockmusik.«

Jörg Scheller bezieht sich in seinem Buch »Metalmorphosen« auf unzählige Songbeispiele, die fast alle bei den großen Streaming-Anbietern zu finden sind. Es lohnt sich, diese gleich während des Lesens anzuhören. © Annick Ramp / NZZ

Frauen im Metal

Als männlicher Autor über Metal und Gender zu schreiben, kann auch schief gehen. Bei Jörg Scheller ist genau das im Kapitel »I’ll Be Your Sister« passiert. Positive Beispiele von Musikerinnen zu nennen, diese gleichzeitig als »hochtalentiert« zu bezeichnen oder Zitate wiederzugeben, dass sich bestimmte Frauen in der Szene immer akzeptiert gefühlt haben, ist hier genauso zu wenig wie folgende Analyse: »Die Ästhetik des Metal ist nicht gefällig. Traditionell sind Frauen angehalten, gefällig zu sein. Alleine schon die Intensität der musikalischen – und oft auch visuellen – Ästhetik im Metal ist deshalb ein Statement der Transgression. Bei Frauen fällt dieses Statement umso nachdrücklicher aus.«

Hier hätte vielleicht ein Interview mit Sarah Chaker vom Wiener Institut für Musiksoziologie gutgetan, die an anderer Stelle aufgrund ihres Forschungsschwerpunktes (Death-/Black-)Metal im Buch ohnehin erwähnt wird. Und Kiss als Vorreiter im Spiel mit Geschlechterrollen zu stilisieren, ist dann auch etwas fragwürdig.

Poptheorie

»Metalmorphosen« ist ein klares Werk der handfesten Poptheorie. Der durchschnittliche Fan, der sich das Buch gemeinsam mit Metal Hammer oder Legacy in den Urlaub mitnimmt, wird wenig Freude daran haben, wenn Jörg Scheller Diedrich Diedrichsen, Immanuel Kant, Bruno Latour, Theodor W. Adorno oder Zygmunt Bauman zitiert und versucht das Metal-Genre in deren Aussagen zu verorten.

Zugegebenermaßen sind manche der Vergleiche etwas weit hergeholt, aber der Autor weiß schon sehr genau, wovon er spricht. Die Kapitel »Arise. Metal und die Geschichte seiner Ästhetik« sowie »The God That Failed. Metal und Religion« liefern ausgesprochen treffende Analysen und – auch für GenreexpertInnen – neue Erkenntnise.

Ergänzt wird das Buch um musiktheoretische Analysen (u. a. Megadeth, Metallica, Behemoth) sowie Interviews mit MusikerInnen wie Sabina Classen (Holy Moses), Ben Weinman (The Dillinger Escape Plan) und Mille Petrozza (Kreator).

Zu empfehlen ist »Metalmorphosen« nicht nur Metalheads, sondern allen Musikinteressierten, die ihren Horizont erweitern und ein wenig besser verstehen wollen, warum es bei Heavy Metal, wie Scheller frei nach einem Napoleon-Zitat festhält, »vom Erhabenen zum Lächerlichen (…) nur ein Schritt« ist.

Jörg Scheller »Metalmorphosen. Die unwahrscheinlichen Wandlungen des Heavy Metal«

»Metalmorphosen. Die unwahrscheinlichen Wandlungen des Heavy Metal« von Jörg Scheller ist im Franz Steiner Verlag erschienen.

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