Katholische Nachrichtenwerte

Letzten Dienstag (13.9.) haben zwei US-Organisationen beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag eine Klage gegen Papst Benedikt XVI und drei weitere hochrangige Vatikan-Verantwortliche wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingebracht. Das Medienecho in Österreich war – im Gegensatz zum anglo-amerikanischen Raum – sehr verhalten. In Zeiten von ORF-Weisungen zum Sprachgebrauch im Fall vom Norwegen-Attentäter wirkt das natürlich besonders eigenartig.

Aus rechtlichen Gründen werden Artikel aus unserem Archiv zum Teil ohne Bilder angezeigt.

Die 84-seitige Klageschrift (nachzulesen hier) wurde von führenden Personen von SNAP, dem Netzwerk der Überlebenden von Missbrauch durch Priester, gemeinsam mit ihren Anwälten von der Menschenrechtsorganisation Center for Constitutional Rights (CCR) eingebracht. Wie es in einer Presseaussendung heißt, beschuldigen sie Vatikan-Verantwortliche der Tolerierung und Ermöglichung der systematischen und weit verbreiteten Vertuschung von Vergewaltigung und Sexualverbrechen an Kindern in der ganzen Welt. Zusammen mit der Klageschrift legten sie mehrere tausend Seiten Unterlagen vor, bestehend aus Berichten, Strategiepapieren und Beweisen von Verbrechen katholischer Geistlicher an Kindern und schutzbedürftigen Erwachsenen.

Nachrichtenwerte

Wie die New York Times dankenswerter Weise bereits recherchiert hat, ist das zwar nicht die erste Klage dieser Art, die beim Internationalen Strafgerichtshof eingebracht wurde, aber die bisher Stichhaltigste. Eine Sprecherin des Gerichts erklärte gegenüber der New York Times, dass jetzt einmal geprüft würde, ob die mutmaßlichen Verbrechen überhaupt in die Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs fallen würden.

Soweit so gut. Jetzt kann natürlich der Nachrichtenwert – Publizistik-Studenten erinnern sich sicher an Walter Lippmann und dessen mittlerweile nicht mehr ganz aktuelle Nachrichtenwert-Theorie und die “news values” (Unmittelbarkeit, Nähe, Prominenz, Ungewöhnlichkeit, Konflikt und Relevanz) – dieser Meldung diskutiert werden.

Am Anfang war die APA-Meldung

Aber gehen wir noch einen Schritt zurück. Die österreichische Medienrealität sieht so aus, dass ein Thema vom Großteil der Redaktionen erst dann wahrgenommen wird, wenn es eine Meldung der APA (Austria Presse Agentur) dazu gibt. Das kann man sich so vorstellen: Zuständige Redakteure sitzen vor dem APA Online Manager (AOM) und beobachten die eintrudelnden Meldungen. Aus den ca. 600 Textmeldungen pro Tag werden die als relevant eingeschätzten herausgepickt. Am Anfang des Nachrichtenwerts steht also die APA, danach der Redakteur (Chef vom Dienst / Chefredakteur) und schließlich die wirtschaftlichen und politischen Verbandlungen des Medienunternehmens (die den Nachrichtenwert natürlich gehörig mitbeeinflussen).

Sprachweisungen

Wie der Artikel auf DiePresse.com zeigt (siehe Quellenangabe), hat es offenbar eine entsprechende APA-Meldung gegeben. Dass diese ihren Weg nur auf TT.com, DiePresse.com (#1 & #2) bzw. auf die Seiten der ORF-Religion gefunden hat (nur eine schnelle Google-Recherche ohne Anspruch auf Vollständigkeit) erstaunt jetzt – nach all den Diskussionen um die ORF-Weisung rund um den Norwegen-Attentäter – doch irgendwie.

Zur Erinnerung: Robert Ziegler, Vize-Chefredakteur des ORF-Niederösterreich, bat KollegInnen in einem Rundmail, den Attentäter von Norwegen nicht als “christlichen Fundamentalisten” zu bezeichnen (Zitat aus dem Rundmail auf derstandard.at). Das führte dazu, dass der ORF-Redakteursrat die “Sprachregelung” zurückwies und Univ.-Prof. Dr. Heinz Oberhummer eine KommAustria-Beschwerde gegen eben diese “Sprachregelung” einbrachte.

Ungehorsam und Co.

Über die Gründe, warum diese Meldung von den meisten österreichischen (aber auch deutschen) Medien als nicht relevant eingestuft wurde, kann natürlich nur spekuliert werden. Vielleicht wurden die beiden einreichenden US-Organisationen (SNAP & CCR) als nicht wichtig genug eingestuft. Oder es wird davon ausgegangen, dass in Österreich ohnehin die Opferkommission um Waltraud Klasnic genug Aufklärungsarbeit leistet und es keiner zusätzlichen Berichterstattung zur Aufklärung von Missbrauch im Kirchenzusammenhang bedarf. Oder man wollte der katholischen Kirche, die ohnehin durch die Ungehorsam-Debatte der Pfarrerinitiative rund um den früheren Wiener Generalvikar Helmut Schüller derzeit stark belastet ist, nicht noch weiter schaden. Wie gesagt, alles reine Spekulation.

In Deutschland wurde die Meldung wohl vom bevorstehenden Papst-Besuch (22. bis 25. September) und die Diskussion über seine Rede im Bundestag bzw. den geplanten Boykott dieser von Dutzenden Abgeordneten überschattet.

SNAP auf Europa-Tour in Wien

Aber vielleicht wird das Thema am morgigen Freitag (16.9.) dann doch noch breiter in den Medien diskutiert. Denn dann sind die Initiatorinnen der Klage aus den USA zu Gast in Wien. Im Rahmen ihrer Europa-Tournee macht SNAP nämlich ab 09:30 Uhr im Café Prückl Station. Dort wird über Details und Hintergründe der Klage, über die weltweite Vernetzung von Missbrauchsbetroffenen und die geplante Zusammenarbeit mit österreichischen Betroffenen informiert. Am Podium:

  • Barbara Blaine, SNAP-Präsidentin und Missbrauchs-Betroffene, USA
  • Rita Milla, SNAP-Mitglied und Missbrauchs-Betroffene, USA
  • Katherine Gallagher, leitende Menschenrechts-Anwältin (Center for Constitutional Rights), USA
  • Sepp Rothwangl, Plattform Betroffener kirchlicher Gewalt
  • Niko Alm, Volksbegehren gegen Kirchenprivilegien (und ehemaliger Herausgeber von The Gap)
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