Kommentar: Hubert Weinheimer über Selbstdarstellung im Web

Das Internet ist die globale Bühne, auf der wir alle unaufhörlich „performen“ – auch und gerade wenn es nichts zu sagen gibt. Wir teilen uns ständig mit, empören uns, liken und kondolieren um die Wette. Warum eigentlich?

Hubert Weinheimer
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© Lemonia Lange

Haben wir geweint 😉

„R.I.P. XYZ“ Jaja, 2016 war das super-traurige Popstar-Killer-Jahr, gell? Eine unsichtbare Macht hat 2016 das Gesetz der Normalverteilung außer Kraft gesetzt und eine kollektive Schockstarre verordnet, so viele Idole wurden dahingerafft. Dabei wird sich beispielsweise kaum jemand, der sich mit Bowie befasst hat, auch für Motörhead interessiert haben. Von der künstlerischen Ausrichtung schließt sich das praktisch aus, jedenfalls ist es sehr unwahrscheinlich. Dennoch hat mein halber digitaler „Freundeskreis“ beiden fleißig Rosen ins Grab nachgeworfen, seltsam. Eine andere sehr exotische Paarung, die der liebe Gott auch mehrfach gewürfelt hat, war George Michael und Leonhard Cohen. Wieder eine Kombination, die sich in den Plattenschränken der Welt wohl nur äußerst selten finden wird. Was veranlasst uns also dazu, ein komplett bedeutungsloses „RIP XYZ“ in die Tastatur zu klopfen? Wenn Meinungslosigkeit als Anteilnahme verkauft wird, fliegt man scheinbar im Moment auch unter dem eigenen Radar durch, aber in Summe sieht das dann irgendwann ziemlich nichtssagend aus.

Bob Dylan und der Nobelpreis

Auch wollten sich alle mit Bob Dylan über den Nobelpreis freuen. Ich behaupte mal 90% der virtuellen Gratulanten kennen nichtmal „Blonde on Blonde“ und haben also keine Ahnung von der Wortgewalt des Herrn Zimmerman. Egal, es ist natürlich sehr menschlich, sich mit jemandem zu freuen oder auch den Tod eines Menschen zu betrauern, aber die inflationäre Beliebigkeit, mit der das geschieht, rückt die ganze Angelegenheit in ein sehr ungünstiges Licht: Es verdeutlicht, dass wir permanent glauben uns zu allem und jedem äußern zu MÜSSEN. Das ist der virtuelle Zugzwang, der uns das Gefühl gibt, unsere „Meinung“ permanent dokumentieren zu müssen – und wenn es nichts zu sagen oder herzuzeigen gibt, dann machen wir Memes mit Screenshots aus Arthaus-Filmen. Die gepflegte Langeweile.

Ich will mich da gar nicht unbedingt ausnehmen, wir leben nun mal 2017 und der digitale Exitus ist für die meisten von uns einfach keine Option. Bleibt zu hoffen, dass sich auch die Selbstdarstellung im Web 2.0 irgendwann von den Zuckergoscherl-Selfies, gestellten Partyfotos, zwangsoriginellen Zweizeilern, 0815-Memes, spontanen Beileidsbekundungen und Laufstrecken-Postings emanzipiert. Und: Es braucht dringend einen Haustier-Filter. Isso.

 

Über den Autor:

Hubert Weinheimer (33) ist Autor und Kopf der Band „Das Trojanische Pferd“. 2014 hat er den Roman „Gui Gui“ veröffentlicht. Seit 2015 ist er zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit am Schauspielhaus Wien.

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