Leitartikel: Warum Gatekeeping nicht immer schlecht ist

Früher war alles schlechter – zumindest fast. Denn beispielsweise in Bezug auf Medienkonsum ist der predigitalen Zeit durchaus Positives abzugewinnen.

© Alexander Galler

Unlängst musste ich mal wieder an Soul Seduction denken. In einer für meinen Musikgeschmack prägenden Phase – den späten Teens – war der Wiener Musikvertrieb rund um den Plattenladen Black Market einer meiner Hauptbeschaffungsorte für Musik. Wer nämlich in Zeiten vor Spotify neue Musik hören wollte, stand vor zwei Problemen: erstens, die Musik zu finden, und zweitens, sie zu beschaffen. Soul Seduction erlaubte mir beides. Auf der Website konnte man bequem in kurze Samples der Tracks hineinhören und anschließend die Alben direkt über das Internet bestellen. Das klingt heute geradezu trivial, war für mich damals aber ein Novum. Endlich nicht mehr durch überfüllte Plattenregale wühlen und dann stapelweise CDs zu den Hörstationen balancieren. Endlich nicht mehr hoffen müssen, dass in der nächsten »La Boum de Luxe« auf FM4 was Spannendes dabei ist, man den Namen richtig versteht und der lokale Plattenladen es zu vernünftigem Preis und in erträglicher Zeit bestellen kann. Endlich nicht mehr gezwungen sein zu schauen, ob die Freund*innen irgendwo was brauchbares Neues ergattern konnten und das dann überspielen, später brennen, zur Not selbst besorgen. Und endlich nicht mehr im nächsten The Gap nachlesen müssen, ob irgendwelche Redakteur*innen, deren Geschmack man vertraut, zumindest ein Album halbwegs positiv besprochen haben.

Dieses Problem zog sich nicht nur durch die Musik, sondern quer durch alle Medien. Egal ob Filme, Serien, Computerspiele oder Comics, bis Anfang der Nullerjahre war der Zugang zu Medien aller Art von Schranken geprägt. Durch eine schnelle und günstige Internetverbindung, durch die zunehmende Bedeutungslosigkeit physischer Medien und nicht zuletzt durch algorithmische Empfehlungsmechanismen wurde sowohl das Finden als das Beschaffen von Kulturprodukten radikal gestrafft. Alles war plötzlich und quasi uneingeschränkt verfügbar. Japanische Animes, Brasilianischer Baile Funk und die neueste Netflix-Serie sind nun ähnlich wenige Klicks entfernt. Soul Seduction stand in gewisser Weise am Anfang dieser Entwicklung, war ein Fortschreiben der analogen Medienpraktiken der letzten Jahrhunderte und gleichzeitig Wegweiser in das heutige digitale Ökosystem.

Fast Media

Mit der uneingeschränkten Verfügbarkeit sind jedoch auch Dinge verloren gegangen. Man muss bei solchen Feststellungen immer etwas vorsichtig sein, um nicht in die Nostalgiefalle zu tappen. Eingeschworene Fanzirkel, die sich primär darüber nach außen abgrenzen, wie viel sie über ihr Lieblingsgenre wissen, mögen in uns schöne In-Group-Erinnerungen wecken. Dass dieses hart erkämpfte Wissen heute nur eine Google-Suche entfernt ist, lässt sich jedoch – nüchtern betrachtet – kaum als negative Entwicklung einordnen. Was aber in diesem Schritt durchaus verloren gegangen ist, ist eben die Notwendigkeit, sich dieses Wissen anzueignen, die Notwendigkeit, sich intensiv mit den Medien auseinanderzusetzen, die wir konsumieren.

Das führt dazu, dass viele Medien schlichtweg beliebiger werden. Besonders stark merke ich das beim Binge-Watching. Wenn ich eine komplette Staffel einer Serie in einem Rutsch durchschaue, verblasst die Erinnerung daran schon kurze Zeit danach. Wenn ich hingegen gezwungen bin, Woche für Woche Folge um Folge zu sehen, und dazwischen Zeit habe, mich mit dem Gesehenen auseinanderzusetzen, es vielleicht sogar mit anderen zu diskutieren oder im Internet zu kommentieren, dann hinterlässt das ganz andere Spuren in mir. Und nicht nur in mir, auch in der breiteren Kultur. Streamingdienste erstrecken die Veröffentlichung ihrer Serien auch deswegen zunehmend wieder über einen längeren Zeitraum, weil sie merken, wie dadurch der kulturelle Impact steigt. Damit ziehen sie künstliche Beschränkungen ein, die ohne limitierte Sendeslots längst nicht mehr erforderlich wären.

Einfach wieder arbiträre Zugangsbeschränkungen einzuführen, ist natürlich weder zielführend noch wünschenswert. Was es eigentlich braucht sind andere Formen der Aufmerksamkeitsökonomie. Einzelnen medialen Inhalten muss wieder mehr Zeit gewidmet werden. Statt einer nicht enden wollenden Flut von Einheitsbrei brauchen wir – analog zu Slow Food – eine Form von Slow Media, einen bewussten, reflektierten, aber auch genussvollen Umgang mit den Dingen, die wir konsumieren. Diese neue-alte Mentalität werden wir aber nicht im Internet finden. Vielmehr finden wir sie im Plattenladen, wo wir uns Alben empfehlen lassen, in die es sich hineinzuhören lohnt. Wir finden sie in linearen Radioformaten, für die Moderator*innen mit Bedacht ein Programm kuratieren. Wir finden sie im Gespräch mit Freund*innen darüber, was bei ihnen in letzter Zeit hängengeblieben ist. Und vielleicht finden wir sie auch in Magazinen wie The Gap, wenn wir uns die Zeit nehmen, uns hinzusetzen und sie zu lesen.

An dieser Stelle folgt jetzt bewusst kein Link. Stattdessen die Empfehlung, mal wieder ins Kino zu gehen!

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