Vom Lärm der Erwartungen haben sich Sophie Lindinger und Marco Kleebauer vor einiger Zeit in eine kleine Livepause zurückgezogen. Nun erscheint mit »Half Asleep« das dritte Leyya-Album. Es zeigt, wie Rückbesinnung ohne Rückschritt aussehen kann. Oder auch: wie es klingt, wenn die Rückspultaste und die Fast-Forward-Taste gleichzeitig gedrückt werden.
Abwarten und Traubensaft trinken. Während direkt hinter uns der 49er vorbeirattert, erzählt Sophie Lindinger von ihrer neu entwickelten Liebe zum Satz »Schauen wir mal«. Sie nimmt einen Schluck aus dem mit dunkelroter Flüssigkeit gefüllten Halbliterglas und setzt ihre Ausführungen erst fort, als die vorhochsommerliche Ruhe, die Ende Juni bereits über Wien liegt, auch in der Westbahnstraße wieder spürbar ist. Passend dazu wird sich die Frage, wie es gelingen kann, im Lärm äußerer Einflüsse die eigene Stimme zu behalten und zu behaupten, wie ein roter Faden durch unser Gespräch ziehen.
Der Grund unseres Treffens: Nach der 2021 verkündeten Livepause veröffentlichen Leyya, bestehend aus Sophie Lindinger und Marco Kleebauer, mit »Half Asleep« ihr drittes Album, das, so die Musikerin, vollkommen losgelöst von sämtlichen Erwartungen entstanden sei. »Diese kleine Pause war wichtig, um wieder zu einer Form von Erwartungslosigkeit zu finden«, hält sie fest. Das bedeutet auch: sich von den ständig im Hinterkopf lauernden Hintergrundgeräuschen zu befreien, die dann auftauchen, wenn bestimmte Vorstellungen von außen an einen herangetragen werden. Die reale Geräuschkulisse beim Interview bringt Sophie Lindinger hingegen ganz und gar nicht aus der Ruhe oder von ihrem Gedankenstrom ab. Sie wirkt gelöst und spricht offen und konzentriert über den Entstehungsprozess des neuen Albums und die Notwendigkeit der Konzertpause.
Es sei bei »Half Asleep« vor allem darum gegangen, zu jener Motivation und jenen Werten zurückzufinden, die sie damals, rund um das 2015 erschienene Debüt »Spanish Disco« und den auch international gefeierten Track »Superego«, begleitet haben, sagt Lindinger und fügt nach einer kurzen Pause hinzu: »Grundsätzlich bin ich immer motiviert, Musik zu machen, wir haben auf unserem Weg jedoch viel von jener naiven Verspieltheit verloren, die uns am Anfang sehr geprägt hat. ›Half Asleep‹ ist auch eine Suche nach dieser Essenz – danach, was uns ursprünglich angetrieben hat.«
Einmal zurückspulen, bitte
Eine weitere Sache möchte die Künstlerin in diesem Zusammenhang unbedingt loswerden: »Letztendlich muss immer die Musik, die Liebe zum Musikmachen im Vordergrund stehen. Irgendwann kam bei uns jedoch der Punkt, wo wir das Gefühl hatten, dass die Musik alleine nicht mehr reicht, sondern wir als Menschen etwas darstellen müssen. Damit habe ich mir vor allem am Anfang ziemlich schwergetan. Es gab immer mehr Stimmen, die uns gesagt haben, wie wir sein sollen – wie wir uns am besten auf der Bühne bewegen und wie wir aussehen sollen.«
Dass die Pressefotos zu »Half Asleep« Sophie Lindinger und Marco Kleebauer mit verschwommenen und übereinandergelagerten Gesichtern zeigen, habe genau diesen Grund, sagt sie. »Uns wurde schon so oft gesagt, wie wichtig es sei, dass man auf Fotos unsere Gesichter sieht. Dieses Mal dachten wir uns: ›Fuck it!‹ Weil es nicht um uns, sondern um unsere Musik geht.«
Möglichkeiten, sich in den auf »Half Asleep« versammelten Liedern zu verlieren, wiederzufinden oder wiederzuerkennen, gibt es natürlich trotzdem unzählige. Denn während bei den Pressefotos bewusst auf klar erkennbare Gesichter verzichtet wurde, zeigt sich auf jedem der insgesamt 13 Songs ein etwas anderes Gesicht einer Band, die sich dem kapitalistischen Drang, alles zu etikettieren, auch in Zukunft gerne verweigern möchte. Blurry, verzerrt und verwischt ist allerdings auch auf der Soundebene einiges – jedoch im allerbesten, sämtliche Genrezuschreibungen ignorierenden Sinne. »Normalerweise gibt es bei einem neuen Album schon immer wieder diese Gedanken, die darum kreisen, ob man zu weit von dem entfernt ist, was man zuvor gemacht hat. Dieses Mal war es eher so, dass wir uns dachten: ›Machen wir mal und schauen wir dann weiter.‹«
Womit wir wieder bei der eingangs erwähnten Liebe zum neuen Leyya-Leitsatz »Schauen wir mal« wären. Wobei Leitsatz möglicherweise der falsche Begriff ist, wenn es vielmehr darum geht, sich frei von Dogmen und Credos einfach treiben zu lassen.
»Da waren Ideen dabei, die wir früher garantiert verworfen hätten. Bei ›Half Asleep‹ haben wir sie einfach weitergesponnen und geschaut, was im Prozess damit passiert«, sagt Sophie Lindinger mit ruhiger Stimme und ergänzt: »Nicht ganz festlegbar ist das Album auch deshalb geworden, weil wir uns von allem, was wir gerade cool und spannend finden, die besten Sachen rausgepickt haben. Es gab kein Genre- oder Soundkonzept und ich bin ehrlich gesagt auch schon etwas gelangweilt davon, dass es immer heißt: Diese Band gehört in diese oder jene Schublade, deshalb muss sie so klingen. Wir haben dieses Mal wirklich alles abgestreift, was bestimmte Erwartungen an Genres und Sounds betrifft.«
Trotz der unterschiedlichen Einflüsse ist ein harmonisches Ganzes entstanden, dem man anhört, dass es handgemacht und organisch gewachsen ist. Insgesamt ist »Half Asleep« wieder elektronischer und tanzbarer als »Sauna« und die EP »Longest Day of My Life«. Wie für Leyya typisch, treffen harte Electro-Beats auf melodiöse Vocals und der teilweise treibende Sound steht einer zarten, aber stets klaren Stimme gegenüber, die unter anderem davon singt, kurz innehalten zu wollen. Von Widerspruch kann jedoch keine Rede sein, dafür ist die Sogwirkung viel zu groß – von Widerspenstigkeit, wenn es darum geht, sich fremddefinierten Standards zu fügen, hingegen schon. Und das hört man auch.
Not noticed, but needed
Die Arbeit an »Half Asleep« sei extrem schnell und einfach gegangen, rekapituliert Lindinger – »weil es einfach ein total lustiger und befreiender Prozess war«. Was die Arbeitsweise und den Entstehungsprozess angeht, hätte sich in den letzten zehn Jahren zwischen Marco und ihr nicht viel verändert, fügt sie hinzu. »Wir sitzen im Studio, spielen mit Instrumenten herum und denken uns: ›Das klingt doch cool, nehmen wir das schnell auf.‹ Dann haben wir einen Loop davon und spielen damit weiter, vielleicht summe ich darüber – und so baut sich das nach und nach auf. Wie Bausteine, die irgendwann zu einem Turm werden. Es war nie so, dass Marco mit einem fertigen Track ins Studio gekommen ist und ich nur darüber gesungen habe. Das sind wir einfach nicht. Alle Wörter und Sounds sind aufeinander abgestimmt und bauen aufeinander auf. Es gibt nichts, das von außen draufgeklebt wird.«
Es gebe auch niemand anderen, mit dem sie so einen speziellen Austausch hätte, findet die Musikerin klare Worte. »Mit Marco im Studio zu sein, ist für mich einfach kein Kompromiss, weil es sich so anfühlt, als würde ich alleine die Musik machen, die ich gerne hören möchte.«
Thematisch zieht sich der titelgebende Zustand durch das ganze Album. Es sei jedoch nicht ihre Intention gewesen, sich durch eine konzeptuelle Klammer selbst zu limitieren, hält Sophie Lindinger fest. »Es ist wie immer ein autobiografisches Album geworden, das Dinge behandelt, die ich zu dieser Zeit verarbeiten wollte und die mich teilweise immer noch beschäftigen – wie zum Beispiel das Gefühl, bestimmte Erlebnisse und Aktivitäten nur so halb mitzubekommen.« Dazu gehört für sie auch, die eigene Existenz in Relation zu den Menschen, Dingen und Strukturen, die sie umgeben, zu verstehen. Oder es zumindest zu versuchen.
Ob die Zeile »I don’t want to be noticed, but needed« aus dem Song »Ring in Silence« damit auch etwas zu tun habe? Sophie Lindinger nickt. »Auch hier geht es für mich darum, in unterschiedlichen Zusammenhängen existieren zu wollen. Ich merke aber auch oft, dass es Phasen gibt, in denen ich zwar gebraucht werden oder zu einer Party eingeladen werden möchte, ich damit aber auch total überfordert bin. Manchmal will ich nur eingeladen werden, dann aber gar nicht hingehen. Vielleicht geht es darum, zwar gebraucht und geschätzt werden zu wollen, gleichzeitig aber übersehen zu werden.«
Über die künstlerische Entwicklung der Band von »Spanish Disco« 2015 zu »Sauna« 2018 meint sie: »Wenn ich die Alben miteinander vergleiche, habe ich das Gefühl, dass ich der Sophie von ›Spanish Disco‹ heute weitaus ähnlicher bin als der von ›Sauna‹. Was mich wiederum dazu bringt, darüber nachzudenken, was äußere Einflüsse mit einem machen; wie sie sich darauf auswirken, wie du arbeitest, dich gibst, Musik machst und was du fühlst. Im Positiven, aber oft auch im Negativen.« So spannt Lindinger den Bogen zum Anfang unseres Gesprächs: zum Erwartungslärm, in dessen Getöse es die eigene Stimme wiederzufinden und zu behaupten gilt.
Bevor sich unsere Wege wieder trennen, fügt sie mit gewohnter Schnörkellosigkeit hinzu: »Im Vergleich zur Sophie von ›Spanish Disco‹ habe ich jetzt aber viel mehr Selbstbewusstsein, Stabilität und Standhaftigkeit. Ich lasse mir nicht mehr so viel dreinreden, weil ich weiß, dass ich die Dinge, die ich tue, wirklich kann. Das bedeutet nicht, dass es jemals Phasen gab, in denen ich jemanden dargestellt habe. Ich war schon immer ich selbst, aber ich finde es spannend, darüber nachzudenken, dass ich das alles sein musste, um wieder die Sophie zu sein, die ich am Anfang von Leyya war. Nur ohne all diese Unsicherheiten.«
Dafür aber wieder mit der ursprünglichen Verspieltheit und Lust am Ausprobieren. Alles andere wird sich zeigen. Oder anders ausgedrückt: Schauen wir mal.
Das Album »Half Asleep« erscheint am 30. August 2024 bei Ink Music. Live zu sehen sind Leyya demnächst auch wieder: 18. September, Hamburg (DE), Reeperbahn Festival — 19. September, Berlin, Hole 44 — 21. September, Wien, WUK — 25. September, Linz, Posthof — 26. September, Graz, PPC — 27. September, Innsbruck, Treibhaus — 29. September, München, Ampere.