Der Verein Kunstglaube thematisiert in der Kirche am Steinhof anhand zeitgenössischer künstlerischer Positionen den schmalen Grad zwischen (religiöser) Mystik und (krankhaftem) Wahnsinn.
Joseph Beuys – Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt, 1965 (© VG Bild-Kunstweb)
In der Galerie Schmela in Düsseldorf ging Joseph Beuys, sein Kopf war vollständig mit Blattgold, Goldstaub und Honig bedeckt, durch die Räume und erklärte einem toten Hasen die Bilder. Die Zuschauer konnten den Vorgang nur durch ein Fenster beobachten und erst nach drei Stunden die Räume betreten.
Laurie Anderson - At the Shrinks, 1977 (© LIMA)
In einem dreiminütigen Video, das auf eine 20cm-große Tonfigur projiziert wird, erzählt die Künstlerin eine Anekdote über eine Sitzung mit ihrer Psychiaterin.
Virgilius Moldovan - Double Target, 2000 (© KUNSTGLAUBE)
Die Skulptur zeigt zwei Arme, die in die Münder zweier Männer fassen. Offenbar kommen sie von einer dritten Person und können als gewalttätig oder disziplinierend aufgefasst werden, als ernst oder spielerisch. Die Interpretation bleibt dem Publikum überlassen.
Silvia Bischof - Sieben Schmerzen, 2014 (© Elmar Bertsch)
Die sieben überdimensionalen, aus Polyesterharz gefertigten Nähnadeln sind genauso lang wie die Künstlerin groß ist. Die Nadel ist sowohl ein Symbol für Schmerz als auch für Heilung (z.B. bei Operationen).
Anonymous - Saint Anthonys Fire, 2016 (© Ece Karatas)
Das dreiminütige Video zeigt Details des „Isenheimer Altars“ von Matthias Grünewald. Ursprünglich war der Altar für die Kapelle des Antoniter-Klosters in Isenheim bestimmt. Dieser Orden hatte es sich zur Aufgabe gemacht, für Menschen zu sorgen, die am sogenannten „Antoniusfeuer“ litten – einer Mutterkornvergiftung, die u.a. Halluzinationen hervorruft.
Hans Ahnert - OCD, 2015 (© KUNSTGLAUBE)
Ahnert, der früher als Chirurg arbeitete und überlegte, Psychiater zu werden, nimmt in seinem Werk Bezug auf eine spezielle Form psychischer Erkrankung. Es besteht aus einer Wand von würfelförmigen Pölstern, die von blauen Bändern zusammengehalten werden. Erst bei genauerem Hinsehen erkennt man geschriebene Worte – Medikamente, die zur Behandlung einer Zwangsstörung verschrieben werden (z.B. Prozac, Valium,…).
Matthew Silver - New York Performance, 2015 (© Esel-Lorenz Seidler)
Der New Yorker Künstler stellt in seinen Performances auf Straßen und öffentlichen Plätzen „Madness“ zur Schau. Er beschreibt sich selbst als „Dorftrottel“ und versucht, durch seine exzentrischen Auftritte die „exzessive Ernsthaftigkeit zu parodieren“, indem er mit „Tabus, Regeln und sozialen Normen spielt“.
Stella Reinhold - Sarah, 2016 (© Franz Schoeffmann)
Die Künstlerin führt während der Vernissage Auszüge von Sarah Kane’s Stück auf (wird für die Ausstellung für eine Projektion aufgezeichnet). Der Monolog ist das autobiografische und sehr subjektive Portrait einer klinischen Depression. (Im Bild zu sehen: Thomas Reinhold und David Rastas vor Stella Reinholds Sarah)
August Walla - Gott Gott, undated (© Ece Karatas)
Im Zentrum von Wallas Werken steht oft eine (von ihm selbst erfundene) polytheistische Philosophie: eine geheimnisvolle Welt, bevölkert von Geistern mit der Aussicht auf ein fernes „Weltallendeland“, das den Übergang in ein Totenreich, Paradies, Fegefeuer oder das große Nichts markiert.
Der Ort für die Ausstellung "Madness & Mysticism" könnte mit der Otto-Wagner-Kirche in den Steinhofgründen nicht besser gewählt sein. Eine schauderhafte Stimmung macht sich breit, wenn man in die erdige Unterkirche der eigens für psychisch kranke Patienten der Anstalt erbauten Kirche steigt und etwas unvermittelt mitten zwischen den Kunstinstallationen steht. Video-Arbeiten, flimmernde Bilder, von der Decke hängende Nadeln, wirres Gerede. Der erste Eindruck: verstörend. Der zweite: interessant. Der dritte? Wer kann schon "madness" wirklich definieren…
Die Ausstellung lockert die Grenzen zwischen "Norm", Mystik und Wahnsinn und lädt zum Hinterfragen ein: ist in unserer Gesellschaft noch Platz für Mystik? Kann es mystische Erlebnisse geben? Bis zu welchem Grad können sie als übersinnliche, religiöse Erfahrung gelten, ab wann werden sie als krankhaft abgestempelt? Leiden (religiös) "Wahnsinnige" wirklich oder passen sie nur nicht ins System?
Die volle Ladung Wahnsinn
Die ausgestellten Kunstwerke sprechen für sich selbst, außer gelegentlichen Führungen des Kurators David Rastas (sehr empfehlenswert!) gibt es wenig Erklärung vor Ort. Die Besucherinnen und Besucher müssen sich also auf eine volle Ladung Madness & Mysticism einlassen und das ist gut so. Jede/r kann in einem Kunstwerk selbst dessen Sinn und Aussage lesen, es wirken lassen. Natürlich sind einige Kunstwerke auch vom Setting beeinflusst. Virgilius Moldovans Skulptur etwa würde in einem Museumsbau vielleicht nicht sofort an Wahnsinn oder etwas Mystisches denken lassen, hier jedoch kommen Aspekte zum Vorschein, die sich ideal in den Rahmen integrieren. Stella Reinhold wiederum hat ihre Performance extra für die Ausstellung bei der Vernissage gezeigt und für die verbleibende Dauer der Ausstellung aufgenommen.
Die "Verrückten" haben doch Recht
Die Ausstellung lebt von der Stimmung, die durch die Werke und Installationen in diesem besonderen Raum entsteht – aufgeladen mit einer Portion Madness, die den eigenen Horizont erweitert und den Blick auf Zustände psychischer "Erkrankungen" verändert. Viele Installationen spielen mit dem Blickwinkel auf das Leben, oftmals haben die sogenannten Verrückten doch eigentlich Recht. "You can’t get away from your heart", sagt der halbnackte, bärtige Matthew Silver in seinem Video. "Life is a paradox. […] Love now!" Wer würde da widersprechen.
Künstlerinnen und Künstler der Ausstellung Madness & Mysticism:
Hans Ahnert, Laurie Anderson, Anonymous, Joseph Beuys, Silvia Bischof, Norbert Bula, Robert Drummond, Seiko Grabner, Olivier Hölzl, Hanspeter Ilg, Janssen, Andrzej Kowalski, Martin Kunz, Yayoi Kusama, Chris Landreth, Virgilius Moldovan, Jeanine Osborne, Stella Reinhold, Richard Saville-Smith, Matthew Silver, Andrei Tarkovsky, August Walla.
Die Ausstellungen von Kunstglaube sind stets so konzipiert, dass sie nicht-religiöse zeitgenössische Kunst in sakrale Räume integrieren. Vergangene Themen waren Leiblichkeit und Sexualität (2014) und Innenraum (2015).
Die aktuelle Ausstellung "Madness & Mysticism" in der Kirche am Steinhof ist von 1. Oktober bis 27. November jeweils Samstag von 15 – 18 Uhr und Sonntag von 12 – 16 Uhr geöffnet.