Murmur goes Safer Sex

Ärztlicher Rat ist zumeist hochgeschätzt. Manipulativ eingesetzt wird er jedoch zum gefährlichen Machtinstrument. Die "Gottheit in Weiß" ist weiß Gott nicht immer nur Überbringer schulmedizinischer Weisheiten. Über Frauenzeitschriften und Ratgeberkolumnen wundert sich schon lange nicht mehr Julia Melcher und begibt sich deshalb in eine Welt abseits von Kunst und Kultur: ins banale Sexleben!

Aus rechtlichen Gründen werden Artikel aus unserem Archiv zum Teil ohne Bilder angezeigt.

Wohin verschlägt es uns heute? Zurück aus London, überkommt es die Kolumnenschreiberin aus Graz und sie entdeckt etwas, das schlägt ihr so sehr auf den Magen, dass sie einen (inhaltlichen) Exkurs wagen muss. Diesmal zum Beispiel in die Welt der Aufklärung. Denn allgemein behaupten wir ja, in einer aufgeklärten und fortschrittlichen Gesellschaft zu leben oder? In der Frauen angeblich gleich behandelt werden wie Männer, oder?

In der Kindererziehungspflichten und Haushaltsvergnügen ausgeglichen zwischen Mami und Papi verteilt werden (laut idealistisch-utopischen Familienmodellen), oder? Zumindest auf dem Papier haben wir tolle Ideen zum Thema Gleichberechtigung. Wenn man diesen Artikel sorgfältig durchliest, dann muss man sich allerdings doch ab und an am Kopf kratzen und verwundert fragen, in welchem Jahrhundert wir eigentlich leben. Ein medizinischer Ratgeber zu sexuellen Störungen bricht doch im Jahre 2010 keine Tabus mehr, oder? Die österreichische Frauenzeitschrift mit dem markanten Namen "Die Frau" schafft es jedoch, alle zukunftsorientierten Rollenbilder von Männlein und Weiblein zu untergraben, indem sie diesen topaktuellen Artikel veröffentlicht.

Also, Frau Doktor schreibt in besagtem Meisterwerk, dass wir als Frauen in einer patriarchalen Gesellschaft, die veraltete Frauenbilder, sowie den Cinderellakomplex und ein unerreichbares Schönheitsideal medial und politisch propagiert, nur deshalb so unglücklich und unzufrieden, ja schier depressiv fühlen, weil wir die moderne Geißel des Kondomkonsums ertragen müssen. Sie rät uns außerdem, es doch lieber wieder so wie Omi und Opi zu machen: mit dem Koitus-Interruptus-Roulette. Eine herzige Vorstellung mit beinahe Heimatfilmcharakter. Die bestickten Stofftaschentücher für die Sauerei danach ("Sportlerflecken", wie sie meine liebe Omi zu nennen pflegte und mir zwinkernd ihr Selbstbesticktes zusteckte) hätten einen Wahnsinns Romantik-Faktor. Für das dramatische und tränenreiche Ende sorgt dann sicher der nächste Schwangerschafts- oder HIV-Test. Die Allgemeinmedizinerin, auf deren Schreibtisch diese These gewachsen ist, beruft sich auf eigene Feldforschung und jahrelange Beobachtung.

Um eine sattelfeste Gegenthese an dieser Stelle aufzustellen bedürfte es weit auszuholen und den Rahmen dieser Kolumne zu sprengen. Ein paar Fakten liegen jedoch auf der Hand:

1) Vor Kurzem noch gab es die Hysterie um die HPV-Impfung, die einer Viruserkrankung vorbeugt, die durch ungeschützten Geschlechtsverkehr ausgelöst wird und angeblich Gebärmutterhalskrebs verursacht. Die (noch) reinen Jungfern wurden damals zahlreich zum Arzt zitiert und gepieckst.

2) Der Koitus Interruptus schützt nicht vor einer unerwünschten Schwangerschaft. Das wissen wir eh alle aus dem Bravo-Heftl! Den Spermien ist das nämlich herzlich wurscht, ob die Frau "bereit" ist oder nicht (einfach bei der Mizzi-Tant´ nachfagen, wie das mit der frühen Hochzeit und der "fiktiven Kinderzeugung" damals war…).

3) Orgasmushemmend ist vor allem, dass Frauen ständig vorgezeigt und erklärt wird, wie sie denn am Besten einen Orgasmus zu fühlen hätten! Der weibliche Orgasmus wird mystifiziert und mechanisiert, zur (männlichen?) Leistungsschau hochstilisiert. Wer sich mit einem falschen Selbstbild ins Bett legt, wird sich selbst auch nicht spüren. (Der Mann entspannt sich laut Frau Doktor sicher auch total bei einer "kontrollierten Ejakulation" und die beständige Angst vor einer Ejaculatio Praecox fördert klarerweise den ungehemmten Höhepunkt in noch nicht gekannter Weise…)

Es gäbe dazu wohl noch so einiges zu besprechen. Schlussendlich bleibt jedoch die Tragik der Tatsache, dass gewisse Frauenbilder (Männerbilder damit impliziert) sowohl gesellschaftlich, medial, als auch medizinisch-wissenschaftlich nicht nur am Leben erhalten, sondern auch noch lauthals unterstützt werden. Der Körper der Frau wird somit beständig für Machtverhältnisse instrumentalisiert und zum Objekt verschiedenster Obsessionen erkoren. Die hohe Anzahl depressiver Frauen resultiert aber nicht aus dem freien Umgang mit Sexualität oder aus sich ändernden Familienstrukturen, sondern darin, dass Frauen noch immer in die hilflose Opferrolle gedrängt werden (es wird ihnen nicht beigebracht "NEIN" zu sagen), sich mit Abhängigkeiten abfinden (sie dürfen nicht lernen sich selbst zu bestimmen, sondern wie man sich von anderen definieren läßt) und sich vor allem ihrem eigenen Körper immer mehr entfremden…

Aber Hand aufs Herz: Der böse Sex sollte ja eigentlich ganz und gar vermieden werden und wirklich brave Mädchen haben eh keinen Spass dabei. Danke Frau Doktor Rüsch!

Newsletter abonnieren

Abonniere unseren Newsletter und erhalte alle zwei Wochen eine Zusammenfassung der neuesten Artikel, Ankündigungen, Gewinnspiele und vieles mehr ...