Muslim Marvel

Sie heißt Kamala Khan, ist 16 Jahre alt, kommt aus New Jersey, ist die Tochter pakistanischer Immigranten und Muslimin. Die neue Ms. Marvel sorgt Monate vor Beginn ihrer Solo-Serie für Gesprächsstoff. Über Role-Models und die Sache mit der Emanzipation.

Andererseits könnte man meinen, dass eine sanfte Gegenwelle spürbar wird. Das Newsweek-Cover zu »Muslim Rage« war vor zwei Jahren heftig umstritten, wurde parodiert und mit Hashtags und Memes verspottet. Religionsübergreifende Initiativen formieren sich, Projekte wie Inside Islam bemühen sich, persönliche Berichte zu verbreiten und zu humanisieren, um ein besseres Verständnis zu schaffen. Und auch die Popkultur wird von dieser Welle erfasst – eben auch die seit 2009 zur Walt Disney Company gehörenden Marvel Comics. Es ist also naheliegend, die Arbeit der Autorinnen an Ms. Marvel von dieser Perspektive aus zu betrachten.

Ein Vergleich wird sich voraussichtlich öfter aufzwingen: »The 99«. 2007 in Kuwait bei Teshkeel Comics zum ersten Mal veröffentlicht, basiert dieser fortlaufende Titel eindeutig auf islamischer Religion und Kultur. Der Name beruht auf dem islamischen Konzept der 99 Namen und Attribute Allahs. Ihre Abenteuer, auch wenn sie weder dogmatisch noch marktschreierisch sind, kreisen ebenfalls immer wieder um den Missbrauch des islamischen Glaubens, dessen Regeln und Gesetze. Der Vergleich hinkt aber. Kamal Khan ist alleine, sie hat keine weiteren 98 Unterstützer. Ms. Marvel basiert nicht auf dem Islam, ganz im Gegenteil. Laut Wilson wird Kamala vor die gleichen Probleme gestellt sein wie die meisten Immigrantenkinder zweiter Generation. Sie wird versuchen müssen, die verschiedenen Kulturen, in denen sie lebt – ihre pakistanische Familie, ihr muslimisches Bekenntnis, High School in New Jersey – zu vereinen. Diese Identitäten zerren an ihr, womöglich ist sie deshalb ein Metamorph, eine Gestaltwandlerin.

Das ist der Plan, den die Autorinnen für Kamala haben. Die neue Ms. Marvel ist außerdem ein Fan der alten Ms. Marvel – eben jener Carol Danvers, die heute selbst Captain Marvel ist. Der i>New York Times beschreibt sie G. Willow Wilson so: »Captain Marvel repräsentiert ein Ideal, nach dem sich Kamala verzehrt. Sie ist stark, schön und ist nicht damit vorbelastet, Pakistani oder anders zu sein.« Die neue Ms. Marvel ist also als popkultureller Rammbock problematisch. Sie bringt zwar einerseits eine menschliche Seite in den abstrakten Themenkomplex »Muslime in Amerika« und stellt dadurch einen Schritt in Richtung Integration dar, sie läuft andererseits aber auch Gefahr, zum Aushängeschild für Assimilation zu werden. Immerhin, vergessen wir das nicht, war und ist Carol Danvers zu einem beträchtlichen Teil erzamerikanisch. Und Kamala Khan möchte wie ihr Vorbild Danvers sein.

Der Versuch der Autorinnen, Hemmungen und Barrieren abzubauen, birgt also auch das Risiko, sich von bestehenden Identitäten abzuwenden. Man darf dabei natürlich skeptisch sein, wie schwer der Einfluss von Popkultur, vor allem ein bisher zweitrangiger Comic Book-Titel, auf soziokulturelle Trends wiegt. Das bisher enorme Echo auf die Ankündigung einer muslimischen Ms. Marvel zeigt aber, dass Fragen der gesellschaftlichen Akzeptanz von Minderheiten eben immer zu Anlässen wie diesen neu verhandelt werden.

»Interessiert mich nicht.«

Die schwierigste Hürde wird es sicherlich sein, die richtige Leserschaft für die neue »Ms. Marvel«-Serie zu finden. Anzunehmen, dass das weibliche und muslimische Publikum am kritischsten sein wird. Hier wird eine Figur dargestellt, wie sie in der US-amerikanischen Popkultur sehr selten vorkommt und mit der es viel verbindet. Eigene Vorstellungen werden mit Sicherheit auf die Figur projiziert. Die daraus folgende Kritik muss ernst genommen werden, denn Kamala Khan, wenn auch fiktiv, spricht in erster Linie zu ihnen, gleichgültig, was Wilson sonst bezwecken mag.

Der Rest der immer noch überwiegend männlichen, weißen Comic Book-Leserschaft muss erst überzeugt werden, Ms. Marvel zu lesen. Für sie gibt es andere Identifikationsfiguren, andere Helden, deren Abenteuer sie verfolgen und sich zu eigen machen können. Es wäre nicht sonderlich polemisch zu behaupten, dass annähernd jeder andere Titel im Marvel-Universum für diese Leserschaft gemacht ist – worin sich die größte Leistung von Wilson, Amanat und Marvel Comics finden lässt.

In der Popkulturform der US-amerikanischen Comic Book sind nur sehr wenige Interessen und Gruppen prominent abgebildet. Für eine Kunstform, die sich als Massenmedium versteht, ist das inakzeptabel. Vergleichsweise gelingt es der weitaus stratifizierteren japanischen Gesellschaft, Manga für praktisch jeden Geschmack und Neigung anzubieten. Bei Marvel und DC, die sich in etwa 80 Prozent des amerikanischen Marktes teilen, gibt es nur 16 Titel mit weiblicher Erstbesetzung und überhaupt nur fünf mit Minderheiten als Hauptprotagonisten inklusive Ms. Marvel.

Wenn es auch nur ein kleines Zeichen ist, so hat Marvel mit der neuen »Ms. Marvel«-Serie eines gesetzt, das zu Nachahmern einladen und unterstützt werden muss. Die Ziele der Autorinnen sind hoch gesteckt. Jetzt müssen sie nur noch beim Publikum ankommen.

»Ms. Marvel #1« erscheint im Februar weltweit bei Marvel Comics. Stefan Niederwieser macht sich außerdem hier über die Soft Power von Comics Gedanken.

www.marvel.com

Bild(er) © Ms. Marvel: Sana Amanat / Marvel Comics, The 99: Tashkeel Comics
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