Deutschsprachiges zwischen Euphorie und Kapitulation, zwischen Pathos und Befindlichkeit. Ausgewählt von Dominik Oswald.
Jupiter Jones – »Die Sonne ist ein Zwergstern«
Die an sich recht gute Gruppe Jupiter Jones hat in ihrer Geschichte nicht nur viele Menschen bewegt – emotional und körperlich –, sondern selbst eine solche bewegte Geschichte, auch: emotional und körperlich. Punk-Wurzeln, deutsche Hot Water Music, Hinwendung zum Pop, »Still«, Echo-Verleihung, Burn-Out, Sänger Nicholas Müller steigt aus und wird zur wichtigen Figur im Kampf gegen Angststörungen, irgendwie weitermachen, dann doch Auflösung. 2021 folgt die Neugründung mit Müller, erste Singles, nun zum Jahresabschluss Album Nummer Sieben. Mittels Crowd-Funding auf dem eigenen Label. Wir sich mit der Neugründung eine Hinwendung zum ganz alten Stil erhofft hatte, wird von »Die Sonne ist ein Zwergstern« vermutlich enttäuscht sein, wer die Band erst vor rund zehn Jahren entdeckte, kann sich freuen. Das neue Album ist nämlich klar im Pop-Regal einzusortieren, natürlich mit Ecken und Kanten, aber musikalisch unterstützen vor allem elektronische Versatzstücke und E-Drums die wie immer überlebensgroßen Refrains, die vor allem Trost in schweren Zeiten spenden sollen. Das klappt!
»Die Sonne ist ein Zwergstern« von Jupiter Jones erscheint am 30.12.2022 via Mathildas und Titus Tonträger. Keine Live-Termine in Österreich. Hier kaufen.
Ernte 77 – »Das rote Album«
Aus Erfahrung behauptbar: »Ernte 23« sind nicht die besten Zigaretten, um mit dem Rauchen als Teenager zu beginnen. Ob die Kölner Kombo Ernte 77 ein guter Einstieg in die wunderbare Welt des Deutschpunk sind, darf ebenfalls bezweifelt werden. Musikalisch vielleicht schon – schließlich schüttelt der eher hymnische Punkrock auch Indie, Garage und Alternative brav die Hände – aber vor allem der textliche Anspruch darf durchaus als hoch eingeschätzt werden: Die doppelbödigen Lyrics über die Absurdität des Alltags benötigen auch bei den Hörenden ein gesundes Maß an Selbstreflexion. Das war bereits bei den ersten drei Alben seit 2017 so und das natürlich auch auch bei »Das rote Album« so, das eigentlich grün ist, aber auch das ist Teil des Humors der satirischen Fun-Punker. Schwieriger Begriff an sich, auch hier, weil natürlich thematisch wenig Fun, die Aufbereitung aber dann nun doch, Beispiel: Songtitel wie »Mein Dildo ist wichtiger als Deutschland«. Und ganz ehrlich, das ist er auch.
»Das rote Album« von Ernte 77 erscheint am 25.11.2022 (oder 9.12.2022) via Astroholz / Rookie. Keine Termine in Österreich. Hier kaufen.
Neufundland – »Grind«
Die gängige Praxis und Genese von Indie-Kapellen in den letzten Jahren war es ja vor allem, in ein ursprünglich klassisches Rock-Setup mit Gitarre, Bass und Schlagzeug, nach und nach mehr elektronische Einflüsse und damit meist auch weichgespültere Klänge zu verweben. Die Kölner Neufundland, denen man bis dato immer wieder auch besonders geschmeidige Anschmiegsamkeit vorwerfen durfte, geht tatsächlich für das dritte Album, das mit dem österreichischen Kontext des Titels »Grind« noch eine Metaebene gewinnt, den umgekehrten Weg – und haut auf ihrem letzten Album noch einmal alles raus. Gleichzeitig mit der Release-Ankündigung wurde nämlich auch die Auflösung besiegelt, was man anhand des neuen Soundkleides durchaus kopfschüttelnd hinnehmen muss– aber man kann in die Menschen nicht reinschauen, aber die Gründe sind valide. Auszeit vom rockigen Sound auf »Grind« nehmen sich Neufundland aber – und das ist dann wieder dieses Paradoxe, von dem alle reden – auf dem wohl stärksten Song »Vino«. Wer zuerst »nie no« sagt, hat verloren.
»Grind« von Neufundland erscheint am 2.12.2022 via Unter Schafen. Keine Termine mehr in Österreich. Hier kaufen.
Lügen – »III«
Apropos auflösen: Auch die Dortmunder Gruppe Lügen verabschiedet sich mit dem dritten Release von den – zugegeben – eher kleinen Bühnen dieser Welt. Generell ist jedes Ende einer Gruppe, die so herrlich Deutschpunk und Post-Punk zum Verschmelzen bringt, schade, wenn sie auch noch so Zeilen schreibt wie etwa »Sie lassen niemals los von ihrer Gier und ihrem Leben / Die Orte könnt ihr uns immer wieder nehmen / Unsere scheiß Subkultur werden wir behalten!« (aus: »Am Hafen«) verliert die Szene eine starke und vor allem direkte Stimme gegen das Patriarchat und für das Menschliche in dieser entmenschlichten Gegenwart. Auch die anderen Tracks auf dem beim grundsympathischen Label Bakraufarita Records erscheinenden Tape gehen unter die Haut – vor allem der Closer »Wenn sie fragen«, in der jemand aus der Zukunft den Jetztmenschen die berechtige Frage nach dem »Wo ward ihr?« stellt, während die world as we know it zugrunde geht. Wo – verdammt nochmal –: wo?
»III« von Lügen erscheint am 9.12.2022 via Bakraufarfita. Keine Termine in Österreich. Hier kaufen.
Außerdem erwähnenswert:
Voodoo Jürgens – »Wie die Nocht noch jung wor«
(VÖ: 2. Dezember 2022)
Er hat es schon wieder getan: Voodoo Jürgens, der wohl eindrucksvollste und detailverliebteste Songwriter Wiener Sprache hat auch mit seinem dritten Album eine Großtat vollbracht, die noch mehr als bislang ein klassisches Band-Album ist, voller Folk, Rock, America, die meistens sagen jetzt schon Wiener Soul dazu. Er erzählt Geschichten, meistens von der Zweierbeziehung, fügt seinem reichhalten Charakter-Portfolio noch ein paar Gestalten dazu. Allen, die mehr dazu wissen – und vor allem auch das ganze »Ding« verstehen – wollen, wird der Blick in die aktuelle Ausgabe oder hierhin empfohlen. Kaufbar hier.
Thees Uhlmann – »100.000 Songs Live in Hamburg«
(VÖ: 2. Dezember 2022)
Ganz persönlicher Einschub: Es gibt wohl kein Stück Musik, was Ihr (gering-)geschätzter Experte für deutschsprachige Musik Ihres (Miss-)Vertrauens seit 2020 gehört hat als »Junkies & Scientologen«, das bis dato letzte Werk von Thees Uhlmann, so gut ist das. Zwei Jahre später finden diese Stücke genügend Platz auf dem bereits zweiten Live-Album der Solo-Ära, auch der Rest natürlich super, inklusive der obligatorischen Tomte-Songs. Kann man verschenken, sollte man aber dringend behalten. Hier kaufen.
Die bisherigen Veröffentlichungen von Dominik Oswalds Reihe »Muttersprachenpop« finden sich unter diesem Link.