Deutschsprachiges zwischen Euphorie und Kapitulation, zwischen Pathos und Befindlichkeit. Ausgewählt von Dominik Oswald.
Jochen Distelmeyer – »Gefühlte Wahrheiten«
Gefühlte Wahrheiten sind ja so im Allgemeinen eher das Gegenteil von Wahrheiten, weil, wir wissen’s: Post-Truth, Fake-News, Wissensfaulheit, Glauben, blabla. Dass das recht große Comeback als Songschreiber einer der wohl prägendsten Figur – Gesicht, Stimme, Songs – der deutschsprachigen alternativen Popmusik genau damit betitelt wird, kann man sich schon denken, dass da jemand nicht gerade zum Predigen falscher Botschaften ausholt, sondern das mit der sich gebührenden Ironie verknüpft. Weil, und das muss man Jochen Distelmeyer zugutehalten, der nun zum ersten Mal seit 2009 – Wahnsinn, da waren wir noch Teenies, also manche von uns – gänzlich neue Stücke veröffentlicht, feine Ironie, das kann er. Aber er schreibt noch immer sehr wunderbare Songs über die Trias von Liebe, Politik und Poesie, mit der ihm eigenen so einprägsamen Stimme, mit der Langsamkeit eines Elder Statements, mit der textlichen Tiefe eines Talents, das nun dreizehn Jahre Zeit hatte, neues zu schreiben – auch wenn es sogar erstmals drei englischsprachige Texte sind. Es hat gedauert, aber gut Ding will manchmal ja auch Weile haben. Und gut Ding ist es, dieses Comeback. Sehr stark!
»Gefühlte Wahrheiten« von Jochen Distelmeyer erscheint am 7.7.2022 via Four Music. Live Termine: 23.10. im Fluc Wien und 25.10. im ARGEkultur Salzburg. Hier kaufen.
Pleil – »Keine Zeit«
Das vielzitierte »Musikgeschäft« ist, wie sämtliche kulturelle Verwertungslogiken oftmals eben genau das nicht: logisch. Unsolidarisch wie ein Pyramidensystem ist es – wie Randy Newman auch richtigerweise sagte –: Lonely at the Top. Im Mittelbau finden sich dann immer wieder Künstler*innen, die es so gerade nie zum großen Durchbruch geschafft haben. Der Bogen ist nicht schwer zu spannen, auch Marco Pleil ist so ein einer, der immer kurz davor stand. Die Frankfurter 00er Alternative Rocker Cloudberry könnte man gerade so noch kennen, beim ersten Solo-Album »Die Spur des Kalenders« aus 2020 bezeichnet Ekki Maas von Erdmöbel Pleil als »Frankfurter Billy Bragg«, für das nun vorliegende zweite Werk ist aber von einem Mann mit der Gitarre wenig zu hören: Wobei, es stimmt schon, ein Mann, eine Gitarre, aber eben noch viel mehr. Loops, Beats, Bass, das ist wieder mehr Alternative Rock, Post Punk, Elektrorock, aber vor allem auch immer noch DIY. Ob der »große Durchbruch« folgt – quasi das Mantra des Erfolgs –, bleibt natürlich abzuwarten. Die Songs auf »Keine Zeit« hätten sich aber zumindest viele geliehene Ohren verdient.
»Keine Zeit« von Pleil erscheint am 1.7.2022 via Timezone Records. Keine Termine in Österreich. Hier kaufen.
Ezé – »Heute hier morgen deutsch!«
Das »Deutschsein« ist ja eine ähnliche Pest wie das »Österreichisch« sein, wobei ja bekanntermaßen in Österreich das »Deutschsein« vermutlich noch ein bisschen schlimmer ist. Als »autochtoner« Mensch mit halbwegs vernünftigen Ansichten sowieso, als Mensch mit »Migrationshintergrund« noch viel mehr. Dass sich der aus Burkina Faso stammende Songwriter Ezé Wendtoin den elementaren Fragen des »Deutscheins« stellt, muss daher besonders hoch angerechnet werden, etwa wenn der eigenwillige und höchst unverwechselbare Songwriter in seinem Stück »Grammatische Deutschheit :)« auf die unsaubere Aussprache der Biodeutschen eingeht oder in »Fahrrad fahr’n«Max Raabe zitiert. Aufgenommen in Berlin und Burkina Faso textet und spielt sich Ezé in viele Welten, ob Trennung, Burka, Feminismus, Migration, Flucht, ob Elektronik, Folk, »World Music« (danke für dieses Genre, Westen, wieder mal alles richtig gemacht!), ob Flöte, Ngoni, ob Ironie, Wortwitz oder purer Ernst. Sollte gehört werden, lohnt sich definitiv.
»Heute hier morgen deutsch!« von Ezé erscheint am 1.7.2022 via Trikont. Live Termin: 22. Juli 2022 bei den Afrika Tagen Wien. Hier kaufen.
Funny van Dannen – »Kolossale Gegenwart«
Auch wenn wir uns an Ort und Stelle nicht in der Tjost üben können, dürfen wir doch immer wieder Lanzen brechen, im Juli für Funny van Dannen: Von vielen zu unrecht als Schmähtandler und bloßer musikalischer Humorist verunglimpft, schrieb der Mann zumindest tatkräftig an der deutschsprachigen Popgeschichte mit. Als Mitgründer der legendären Lassie Singers – wenngleich natürlich Almut Klotz und Christiane Rösinger diejenigen sind, welche hier vorrangiges Lob verdienen –, aber auch natürlich als Solokünstler. Die zahlreichen Alben – etwa das wirklich traumhaft gute »Trotzdem Danke« oder auch »Saharasand« (wer etwa »Magnolie« nicht liebt, hat selbiges noch nie getan) – sind zum Bersten gefüllte Sammelsurien an guten Einfällen, textlichen Höchstleistungen, absurder Romantik, Sozialkritik und der Perfektion von simpler musikalischer Komplexität. Dass van Dannen mit seinem x-ten Album zu seinem Entdecker-Label Trikot zurückkehrt, darf als wunderbarer Zufall des Schicksals verstanden wären, alleine der Titel »Kolossale Gegenwart« ist ganz feine Klinge.
»Kolossale Gegenwart« von Funny van Dannen erscheint am 29.7.2022 via Trikont. Noch wurden keine Live-Termine bekanntgegeben. Album hier kaufen.
Die Liga der gewöhnlichen Gentlemen – »Alleine auf Parties – 18 gewöhnliche Hits«
Alle treuen Leser*innen dieser Rubrik wissen Bescheid: An Ort und Stelle haben wir einen recht großen »Soft Spot« für die wunderbare Gruppe Die Liga der gewöhnlichen Gentlemen. Wir haben alle Alben seit (Neu-)Gründung 2012 bedingungslos abgefeiert und 2016 »Rüttelt mal am Käfig, die Affen sollen was machen!« sogar zum besten Album des Jahres gewählt, aber auch die jüngsten Alben wie das 2021er »Gschichterl aus dem Park Café« mehr als wohlwollend auf- und wahrgenommen. Dass nun nach zehn Jahren Bandgeschichte ein Best-Of erscheint, mag zwar kalkuliert klingen (und sein), es ist aber längst überfällig, betrachtet man die bedingungslose Hit-Dichte auf jedem Werk. Die Gentlemen wären aber nicht ebensolche, würden sie uns nicht für sehr viele Stücke neue Mixe gönnen, so hört man etwa die Monsterhits wie »Die Gentlemen Spieler«, »Der fünfte Four Top« (das es auf Platz 2 der Jahrzehntecharts unseres Autors geschafft hat) oder »Kennst du Werner Enke?« in neuem Gewand (plus weitere). Wer bis jetzt noch nicht auf den Zug Richtung Groove aufgesprungen ist, die Liga macht Halt und bittet zum Einstieg. Man will nie mehr aussteigen.
»Alleine auf Parties – 18 gewöhnliche Hits« von Die Liga der gewöhnlichen Gentlemen erscheint am 1.7.2022 via Tapete. Keine Termine in Österreich. Hier kaufen.
Außerdem erwähnenswert:
Zymt – »Das Privileg der Misanthropie«
(VÖ: 22. Juli 2022)
Das Dortmunder Punk-Label Spastic Fantastic Records ist hier mehr als gern gesehener Gast – »Das Ding wird ein Erfolg« von Reiz läuft noch auf Dauerschleife –, auch das jüngste Release hat Potenzial zum ganz großen Ding: Die Gruppe Zymt aus NRW mischt NDW mit schnellem 1-2-3-Punk, ganz ohne Hemmschwelle und Geschwindigkeitsbegrenzung, Alltagsthemen, die gleichsam verzeckt, modern und dada sind, Tanzbarkeit, Relatability und alles, was man für großartige Songs benötigt.
Tropikel Ltd. – »Achtung Fragile« (EP)
(VÖ: 1. Juli 2022)In einer Nacht voller Freudentränen kam die einzige traurige aus diesem Grund: Tropikel Ltd. waren fast nur in Wien nicht Vorgruppe von Roy Bianco & Die Abbrunzati Boys. Zu gerne hätte man den elektrisierenden Mix aus Indie, 80s Disco-Pop und postironischen Schlager des Berliner Trios auch live gehört, immerhin stillt die 7-Song-starke EP den Durst, gibt uns die Liebe und Emotionen zurück, die uns Glück versprechen. Apropos – mega Überleitung: Tropikel Ltd. sind ein Versprechen für die Zukunft. Dass sie gut wird.
Slime – »Zwei«
(VÖ: 15. Juli 2022)
Zum Abschluss ein wenig Gossip: Zwei Jahre, nachdem mit Sänger Diggen das Gesicht der Hamburger Punk-Institution Slime verlassen hat, erscheint nun das erste Album mit der neue Frontsau Tex, das durchaus etwas rockiger ist. Bereits die Vorab-Singles sorgten für Stress beim Ex, welcher der Gruppe »Mangel an Respekt der eigenen Geschichte gegenüber« vorwirft, weil die alten Lieder gesungen werden. Gekränkte Männlichkeiten sind leider auch (und vor allem) im Punk gang und gäbe. Schade.
Die bisherigen Veröffentlichungen aus Dominik Oswalds Reihe »Muttersprachenpop« finden sich unter diesem Link.