Muttersprachenpop – die wichtigsten Veröffentlichungen im Juli 2024

Deutschsprachiges zwischen Euphorie und Kapitulation, zwischen Pathos und Befindlichkeit. Ausgewählt von Dominik Oswald. Die wichtigsten deutschsprachigen Neuerscheinungen im Juli 2024. Mit Die Verlierer, Dino Paris, Wir sind Fliegen und mehr.

© Milan Koch / Die Verlierer

Dino Paris & der Chor der Finsternis  – »Geisterbahn«

Dino Paris © Dino Paris / YouTube Screenshot
Dino Paris (Bild: Dino Paris / Youtube Screenshot)

Wer sich an die sehr tolle Gruppe Vögel die Erde essen nicht erinnern kann, hat die 2010er-Jahre nicht erlebt. Ebenjene Gruppe hat sie nicht überlebt und 2020 den Stecker gezogen. Danach hat Member Jan Preissler als Dino Paris weiter gemacht, bereits im selben Jahr erschien das bislang einzige Album »Alles wird ganz schlimm« – Zitat von uns von damals: »Schon geil, das Teil«, 2021 zwei EPs und zuletzt 2023 ein Song mit Acteur Daniel Zillmann namens »Die Ballade vom sterbenden Mann«. Auf dem nun vorliegenden zweiten Album vertont Dino Paris tatsächlich dem Namen entsprechend eine Geisterbahn, jeder der dreizehn Song ist eine Station in der Schreckensbahn des menschlichen Daseins, zwischen Turbokapitalismus sowie falschen und echten Männlichkeiten, erstmals auch eine Auseinandersetzung mit der eigenen queeren Lebensrealität. Neben den beherrschenden Themen der Gegenwart in der Lyrik, spielt Dino Paris auch noch diesen ganz distinktiven zuckersüßen Weird-Folk-Schlager, der auch das zweite Album zum Must-Have in deinem Warenkorb macht. Schon geil, das Teil.

»Geisterbahn« von Dino Paris & der Chor der Finsternis erscheint am 13. Juli via Kreismusik. Aktuell keine Termine in Österreich. Hier kaufen.

Die Verlierer – »Notausgang«

Die Verlierer © Milan Koch
Die Verlierer (Bild: Milan Koch)

Man kann es nicht anders sagen: Das Debütalbum von Die Verlierer aus dem Jahr 2022 war eine Offenbarung. Die Supergroup, bekanntlich bestehend aus Mitgliedern von Everybody’s Darlings Chuckamuck und der Punk-Kapelle Maske, schraubt sich auch auf dem Zweitwerk zu Höchstleistungen. Ihr düsterer und gleichsam wütender Postpunk macht aus dem Berlin der aktuellen (weniger goldenen) Zwanziger ein Berlin der späten 70er. So richten sich viele der Songs gegen die Stadt, etwa in »Fickt diese Stadt«: »Fickt diese Stadt / vertreibt die Menschen, die in ihr wohnen / und verkauft ihre Kultur / ignoriert die Sprache, die sie sprechen / verkauft die Häuser, in denen sie wohnen«. Die Verlierer haben es sich also zur Aufgabe gemacht, gesellschaftliche Zustände zu beschreiben, die sich gegen die Gesellschaft selbst richten, als düstere Mahner gegen die Beschissenheit der Gegenwart, in welcher der Mensch noch weniger zählt als jemals zuvor. Dass der Sound dabei auch mega tight und authentisch ist, macht »Notausgang« zu einem echten Topalbum! 

»Notausgang« von Die Verlierer erschien am 14. Juni digital, am 14. Juli erscheint es physisch als Tape und am 14. August auf Vinyl via Mangel Records. Live-Termine: 17. Oktober, Wien, Arena. Hier kaufen.

Elias – »Verlieren/Gefunden«

Elias Album Cover © Irrsinn Records / Columbia
Elias Album Cover (Bild: Irrsinn Records / Columbia)

Schon klar, diese Differenzierung von »Alternative« und »Mainstream« macht 2024 keinen Sinn mehr, aber so vom Ethos her gibt’s da schon immer noch Unterschiede, kann man sagen. Und immer schön, wenn jemand sozusagen auf die gute Seite der Macht wechselt: Elias ist so einer, der 2019 unter seinen ersten drei Buchstaben einen großen Gold-Werbe-Hit hatte. Medien fragten, ob er der deutsche Ed Sheeran sei, zu Gast in der Helene Fischer Show und so weiter. Es folgt, was bei solchen Vergleichen und Einladungen fast zwangsläufig folgen muss: Sinnkrise, Auflösung der Mainstream-Karriere, der dringende Wunsch, ganz anders und von vorne anzufangen. So entsteht auch »Verlieren/Gefunden«, musikalisch eine gar wilde Mischung aus Bedroom-Pop, Klavier-Chansons, Rap-Parts, Balladen, Synthpop, allgemeinen Deutschrap-Vibes ohne Deutschrap zu sein, immer wieder mit einer recht hohen Stimme, die zwar gut, aber auch polarisierend ist. Textlich ist es purer Bedroom, innere Bewusstseinsströme wie Tagebucheinträge, eben zwischen dem Verlieren und dem Wiederfinden. Insgesamt ist »Verlieren/Gefunden« zwar eine durchaus solide Scheibe, aber zugleich auch eine Warnung, dass man nie so richtig aus seiner Haut kann: Weil das ist immer noch ziemlich Pop – was aber an sich ja nichts Schlechtes sein muss.

»Verlieren/Gefunden« von Elias erscheint am 26. Juli via Irrsinn/Columbia. Keine Termine in Österreich. Hier kaufen.

Wir sind Fliegen – »Der Hype«

Wir sind Fliegen © Wir sind Fliegen / Spastic Fantastic
Wir sind Fliegen (Bild: Wir sind Fliegen / Spastic Fantastic)

Promotexte sind für Musikjournalist*innen erste Anlaufpunkte für das Wie und Warum einer Platte, die Saarbrücker Punks von Wir sind Fliegen setzen dem oftmals banalen Blabla den vielleicht schönsten und besterklärendsten Satz jemals entgegen: »Lofi-Assi-Punk, wie wir ihn sonst nur aus den neuen Bundesländern kennen.« Genial! Und gleichzeitig auch die Vorgabe dessen, was die Leute auf dem wieder einmal sehr schönen nun anstehenden Release als Tape bei Spastic Fantastic Records erwartet: Keine Gefangenen, sondern meist äußerst geradliniger Aggro-Punk mit meist recht geringer Akkordanzahl, ohne Rücksicht auf Verluste und schön auf die Mütze. Weil das allein aber zu einfach und auch zu langweilig wäre, entdeckt das Duo auf ihrem zweiten Album zudem elaborierteres Songwriting, vor allem auf dem melancholischen »Der Sammler« oder auf dem super Post-Punk-Stampfer »Bewegung«. Ebenfalls richtig nice: Die physischen Releases sind limitiert, es gibt 30 neonpinke Kassetten, 70 neongrüne. Also schnell sein! 

»Der Hype« von Wir sind Fliegen erscheint am 12. Juli als Tape via Spastic Fantastic. Digital ist es bereits bei Barhill Records erhältlich. Keine Österreich-Termine. Hier kaufen.

HGich.T – »Lenovobeach«

HGich.T © HGich.T / Tapete Records
Hgich.T (Bild: Hgich.T / Tapete Records)

Das Hamburger Dada-Kollektiv HGich.T, das seit jeher mehr polarisiert als handelsübliche Sonnenbrillen, wollte sich für das achte Album eigentlich einen feinen Lenz und einen auf Kreativagentur machen – und KI die ganze Arbeit überlassen. Aber wie das nun mal Mitte 2024 noch so ist: Alles muss man selber machen! Die Trainingsmodelle brauchen wohl noch Zeit, um personifizierten Eskapismus im Schwachsinn zu generieren und zu erlernen, was das überhaupt alles zu bedeuten hat. Und so gibt es auch auf »Lenovobeach« wieder handgemachten Trademark-Qualitäts-Trash zu günstigen Preisen, eine Mischung aus Rave und Pop, und jede Menge tolle Zeilen, wie etwa im Titelstück: »Ich breche in den Wellen / die Stückchen schwimmen herum / Der Sekt fließt in Strömen / Ich fühl mich wie ein Fisch / Wie damals, als ich ein Fisch war / Damals, letztes Jahr«. Also, wer das alles und schlechten Geschmack im Allgemeinen feiert – zurecht –, kann sich wieder auf was Schönes freuen.

»Lenovobeach« von Hgich.T erscheint am 12. Juli via Tapete Records. Live-Termine: 29. November, Linz, Stadtwerkstatt — 30. November, Wien, Szene. Hier kaufen.

Die bisherigen Veröffentlichungen von Dominik Oswalds Reihe »Muttersprachenpop« finden sich unter diesem Link.

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