Deutschsprachiges zwischen Euphorie und Kapitulation, zwischen Pathos und Befindlichkeit. Ausgewählt von Dominik Oswald.
Trixsi – »… And You Will Know Us by the Grateful Dead«
Jede Gruppe, die humor- und wortspieltechnisch etwas auf sich hält beziehungsweise auch halten will – man muss es schon wollen –, sollte sich an der Hamburger Punkrock-Supergroup Trixsi ein Vorbild nehmen, Albumtitel: Eins a. Auch nicht schlecht: das Cover mit formschönem Erbsen-Karotten-Mix. Ebenfalls recht super: der Inhalt, also nicht das Gemüse, das Musikalische. Noch immer – wie schon auf dem Vorgänger »Frau Gott«, der 2020 in die deutschen Charts einstieg, in die richtigen! – klingt die Gruppe größtenteils wie das Destillat der einzelnen Teile der ursprünglichen Bands der Mitglieder: Herrenmagazin, Love A, Findus. Noch immer gibt es die Freiheiten zum Ausbruch, noch immer rückt Rampensau Jörkk Mechenbier in den Vordergrund. Der Mann kann singen, ein Traum. Auffällig: Es ist mitunter »rockiger«, überraschend rockig. Also nicht im rockistischen Sinne, darüber ist die Gruppe erhaben. Vor allem die Gitarren haben aber eben deutlich an Schwere gewonnen, was natürlich die obligatorischen Fragen aufwirft: Ist das noch Punkrock? Ist das schon Alternative Rock? Sind Trixsi die neuen … Trail of Dead? Sind sie gar die neuen Greateful Dead? Vorläufige Antwort: vielleicht.
»… And You Will Know Us by the Greateful Dead« von Trixsi erscheint am 3. Juni 2022 bei Glitterhouse. Keine Österreich-Termine. Hier kaufen.
Raphael Sas – »Roter Berg«
Wohnen, wo andere Urlaub machen. Oder, in diesem Fall, auch nicht schlecht: Aufwachsen, wo andere Tagesausflüge machen. Der Rote Berg im 13. Wiener Gemeindebezirk sei allen ans Herz gelegt, die ihrem Vierbeiner die schönste Zeit machen wollen. Von dort stammt auch Raphael Sas, den man nicht nur von seinem multiinstrumentellen Spiel bei Der Nino aus Wien kennen dürfte, sondern auch von der wunderbaren Ex-Band Mob – ich vermisse sie einmal im Monat – sowie von seinen bislang erschienen, aber doch schon relativ lang zurückliegenden Soloalben »Gespenster« (2012) und »Nackerte Lieder« (2015). Sein neues Album, benannt nach dem kleinen Hügel, schlägt musikalisch einen neuen Trampelpfad ein: Während der Vorgänger eher, dem Titel entsprechend, sehr reduziert daherkommt, sind die Kompositionen nun etwas opulenter, gar poppiger ausgefallen. Dass Erfolgsproduzent Paul Gallister (Wanda und alle anderen) hinter den Reglern stand, ist spürbar. Dennoch ist auch »Roter Berg« unverkennbar Raphael Sas, schließlich steht sowohl vom Musikalischen her als auch natürlich vom Textlichen die Melancholie im Mittelpunkt, besonders trefflich in der Schlussnummer »Die Welt ist groß und das Leben schön«. Man kann bestätigen: zumindest am Roten Berg ist das so.
»Roter Berg« von Raphael Sas erscheint am 10. Juni 2022 bei Problembär Records. Album-Release-Show am 8. Juni im Chelsea in Wien. Hier kaufen.
Frau Kraushaar – »Bella Utopia«
Das sicherlich künstlerisch ambitionierteste Album kommt in diesem Monat – oder Quartal, oder überhaupt – von der in Hamburg lebenden Musikerin Frau Kraushaar, die auf ihrem dritten Album den Spagat zwischen frickelnder Elektronik und Kunstlied, zwischen popmusikalischen Melodien und Experiment nicht nur versucht – was schon aller Ehren wert wäre –, sondern ihn tatsächlich auch schafft. Erstmals nur auf Deutsch – auf dem Vorgänger gab es ganze elf Sprachen! – entstehen so 14 Stücke, zuvorderst am Keyboard komponiert, die sich – wie sämtliche Hilfsbegriffe schon erahnen lassen – nur schwer zu greifen, schwer einzuordnen und zu schubladisieren sind. Auch die Lyrics folgen dem musikalischen Anspruch: Abwandlungen der Texte von Heinrich Heine finden sich ebenso wie eher abstrakte und dann wieder sehr konkrete Poesie. Etwa, wenn eine Postkarte en détail beschrieben wird. »Bella Utopia« ist eigenwillig, verkopft, aber gleichzeitig beseelt. Und sollte so nicht eine jede Utopie sein? (Frage für einen Freund.)
»Bella Utopia« von Frau Kraushaar erscheint am 17. Juni 2022 bei Staatsakt. Keine Österreich-Termine. Hier kaufen.
Brezel Göring – »Psychoanalyse (Volume 2)«
Brezel Göring macht das einzige Richtige, was man nach dem Verlust seines Lebensmenschens machen sollte oder sowieso machen sollte: Er geht in Therapie – und veröffentlicht sein erstes Soloalbum nach dem Tod von Françoise Cactus, mit der er über so lange Jahre das famose Weirdo-Pop-Duo Stereo Total gebildet hatte. Er steigt ins Auto und fährt von Berlin nach Südfrankreich, findet Ruhe und veröffentlicht nun die »Volume 2« von »Psychoanalyse«. Wobei, eine »Volume 1« hat es natürlich nie gegeben. Die Stücke, die es darauf hätten schaffen müssen, wollte er niemandem zumuten. Die Stücke selbst, obwohl sie jetzt so passend sind in ihrer Tragik des Alltags, in ihrer teils beklemmenden Düsternis – ganz und gar untypisch für Stereo Total –, stammen zum großen Teil noch aus gemeinsamen Tagen, im Titelsong hört man sogar noch die ewige Stimme Cactus’. Es ist ein wahnsinnig zärtliches Album, naiv und sanft und nahbar und tatsächlich ganz und gar zauberhaft.
»Psychoanalyse« von Brezel Göring erscheint am 3. Juni 2022 bei Stereo Total Records. Keine Österreich-Termine. Hier kaufen.
Andreas Dorau – »Ich bin der eine von uns beiden«
So sehr man sich über die Produktivität der Pop-, Wave- und allgemeinen Lebensikone Andreas Dorau in den letzten Jahren freuen durfte, lohnt sich doch auch ein Blick zurück in die Phase des Tüftelns, in die Mitte der Nullerjahre, als »Ich bin der eine von uns beiden«, das nun neu veröffentlicht wird, erstmals erschien. Und würde es nicht stimmen, dass es bereits aus 2005 stammt, würde man es nicht glauben, so (post-)modern klingt dieses dancy Popalbum. Stoßrichtungen: Softpop, House, Disco, Funk, Party und Verdruss, vor allem Party – gar ungewöhnlich für das eher schubladige Jahrzehnt, das Album müsste aus 2022 sein, eigentlich. Auch die Gästeliste, damals und auch noch heute – Zungen, seid bereit zu schnalzen! Achtung, Namedropping: Sven Regener, Erobique, Wolfgang Müller, Justus Köhnke, Paul Kominek – so eine Tanzbarkeit kommt ja nicht von ungefähr. Für den neuen Anstrich wurden die zwölf Stücke – manche davon gelten als Klassiker, etwa »Kein Liebeslied« oder »Im September« – remastert … und das ganze Drum und Dran. Cool!
»Ich bin der eine von uns beiden« von Andreas Dorau erscheint am 3. Juni 2022 bei Tapete Records. Keine Österreich-Termine. Hier kaufen.
Außerdem erwähnenswert:
Der Nino aus Wien – »Eis Zeit«
(VÖ: 24. Juni 2022)
Auf seinem bereits zwölften (!) Album unter dem Namen Der Nino aus Wien zeigt der mittlerweile 35-jährige Nino Mandl erneut seinen Signature-Sound. »Eis Zeit« wurde live mit der gesamten Kapelle aufgenommen, das spürt man, das hört sich gut an, dieser unverkennbare beschwingte alternative Pop. Alles darüber und warum Ninologen das neue Album gemeinsam mit dem Vorgänger »Ocker Mond« zu den »Oslip Years« zählen, gibt es demnächst in der kommenden Ausgabe von The Gap zu lesen – und online an Ort und Stelle.
Das schottische Prinzip – »Jolly«
(VÖ: 14. Juni 2022)
Der sehr sympathischen Gruppe Das schottische Prinzip ist gleich mit ihrem Debüt ein großer Wurf gelungen: Man hatte sich erst 2020 im Internet kennengelernt und schon beim zweiten Konzert winkte ein Plattenvertrag: Ernst Molden entdeckte die Band, die sich vor allem durch einen unbändigen Bewusstseinsstrom in den starken Texten auszeichnet. Erfahren Sie mehr – und das werden Sie sich schon gedacht haben – in der kommenden Ausgabe von The Gap.
Jetzt! – »Können Lieder Freunde sein?«
(VÖ: 10. Juni 2022)
Wer seit den 80ern zu den legendären Figuren deutschsprachiger Popmusik gehört, obwohl erst 2019 das erste Studioalbum erschien, muss irgendetwas richtig gemacht haben. Dies trifft also definitiv auf Michael Girke zu, dessen Projekt Jetzt! gleich nachlegt und auf Tapete Records den Zweitling veröffentlicht, der wieder einmal sehr souligen Pop – Bläser! – norddeutscher Schule mit melancholischer Schlagseite bietet.
Die bisherigen Veröffentlichungen aus Dominik Oswalds Reihe »Muttersprachenpop« finden sich unter diesem Link.