Deutschsprachiges zwischen Euphorie und Kapitulation, zwischen Pathos und Befindlichkeit. Ausgewählt von Dominik Oswald. Die wichtigsten deutschsprachigen Neuerscheinungen im November 2024. Mit Sind, Das Format, Milliarden, Jan Rohrweg und Tauben.
Sind – »Erstmal für immer«
Die Gruppe Sind ist die bandgewordene Mogelpackung: Eigentlich müssten sich die drei Berliner nämlich Waren nennen. Die romantische Verklärung der Vergangenheit zieht sich nämlich so durch die mittlerweile vier Alben starke Diskographie, wie das Nichts-Lernen aus der Vergangenheit durch die Geschichte der Menschheit. Ihre bislang größten Hits »Kino Kosmos«, »Karlshorst« und »Templin« beschäftigten sich bereits mit dem Aufwachsen in der Großstadt, im vierten Longplayer ist das Thema wieder allgegenwärtig: Etwa auf »Das erste Mal im Internet« mit der großen Freiheit ICQ und Windows 98 oder auf »Römerweg«, wo eine Erinnerung auf Facebook, die ein Klassenfoto zeigt, zum andächtigen Schwelgen in Klassenraumvergangenheiten einlädt – tolle Zeile dabei: »Sie dealte heimlich Gras, liebte Ramones und UK Subs / und macht heut Key-Account-Irgendwas bei der Allianz«. Begleitet wir das alles von ebenso schwelgerischem Indie-Pop, das ist zugegeben schon ziemlich nice, also wenn man Ende der 90er pre-/post- oder irgendwie sonst adoleszent war. Und das dürfte wohl auch die Zielgruppe von Sind sein. Und weil Musik auch immer nur so gut ist, wie sie ihre Zielgruppe bespielt, können wir hier sehr deutlich den Daumen heben: Sehr gut!
»Erstmal für immer« von Sind erscheint am 15. November 2024 via Embassy of Music. Ö-Termin: 17. November 2024, Wien, B72. Album hier kaufen.
Das Format – »s/t«
Ui! Der Pressetext bezeichnet die Gruppe Das Format – geiler Name! – als »deutschsprachige Idles«. Und – ganz ehrlich – das hat es auch gebraucht! Fußstapfen sind ja auch nur da, um ausgefüllt zu werden. Und – ganz ehrlich – das schafft die Gruppe auf ihrem Debütalbum auch tatsächlich recht mühelos. Harter, stampfender, noisey Post-Punk. Rein musikalisch gibt’s da gar nichts daran auszusetzen, da stimmt so ziemlich alles, da denkt man nicht an Augsburg, wo die Band herkommt, sondern an New York, London, schmutzige Angsträume in großstädtischen Molochs am Anfang und Ende der Zivilisation, No Future. Es sind klare Assoziationen, die Das Format weckt. Der sehr dringliche Gesang blökt ebenso assoziative Metaphern vom Alleinsein, von Entfremdung, von der Ansammlung an Qual und Entbehrung im Überfluss, von versprochener und nie eingehaltener Erlösung – oder wie es in der Schlussnummer »Lösung« heißt: »Wenn das deine Lösung ist / will ich mein Problem zurück«. Absolute Top-Empfehlung, das Ding!
»Das Format« von Das Format erscheint am 22. November 2025 via Paulapaulplatten. Keine Ö-Termine. Album hier erhältlich.
Milliarden – »Lotto«
Das Berliner Duo Milliarden wirft bereits ihr viertes Album aufs Tableau und bleibt sich, wie es ja beim vierten Album generell die Regel ist, im Großen und Ganzen treu: Bierseliger Schunkel-Romantik-Rock, der ziemlich retrophil auch dieses Mal dem ewigen und schon beim ersten Album langweiligen Vergleich mit Ton Steine Scherben standhält. Nur geben sich Ben Hartmann und Johannes Aue erstmals etwas reduzierter, ruhiger, gar gereifter – was auch immer das heißen soll. Pubrock, Klavierballaden, das kleine bisschen Punk im Folk (aber eben kleiner als bislang). Und natürlich Lyrics, die gleichzeitig alles umarmen und alles in sich zusammenfallen lassen, gleichzeitig nahbar psychotisch und irreal realistisch wirken. Also wirklich mehr als nur die sprichwörtlichen Melodien für Milliarden. Milliarden sind eine Band, die weiß, was sie kann, die weiß, was sie sein will und genau das auch macht und so zusammenbringt, dass sie auch von gefühlt Milliarden gehört werden will. Toll!
»Lotto« von Milliarden erscheint am 8. November 2024 via Pias. Ö-Termin: 23.November 2024, Wien, Flucc Wanne. Album hier kaufen.
Jan Rohrweg – »Am Sand«
Eigentlich sollte man ja nicht von der Metapher des aufgehenden Sterns schreiben, weil man damit auch immer einen Untergang impliziert. Dass es dennoch einen neuen Stern am österreichischen Folk-Singer/Songwriter-Schubertlied-Wienerlied-Was-auch-immer-Lied-Himmel gibt, ist aber durchaus bemerkenswert. Jan Rohrweg, der nun sein gecrowdfundetes Debüt veröffentlicht, liefert selbiges nämlich mit großer Bravour und elf wunderbaren Stücken. Selbstredend nur sehr spärlich instrumentiert – eine Concertina ist da schon quasi Orchester –, distinguiert das Album dann vor allem das Textliche und bei dem sagt dann selbst der Sonntagsfahrer: »Hut ab!« Da brauchst du nur eine Zeile hören und weißt es schon: »Guten Morgen, guten Morgen / Heute Nacht bist nicht gestorben / Dafür sei dir erst mal herzlich gratuliert« (gleich aus der ersten Nummer, »Existenz«). Wobei, ob das so gut ist, mit dem Aufwachen, hinterfragt auch Rohrweg quasi ständig, aber im Großen und Ganzen: Ja. Etwas, was sich auch über das Album als Ganzen sagen lässt: Ja!
»Am Sand« von Jan Rohrweg erscheint am 8. November 2024 via Eierlikör Records/Hoanzl. Albumrelease am 12. November 2024 im Tag in Wien. Album u.a. hier kaufen.
Tauben – »Bis ans Ende der Schäbigkeit«
Es gibt einige Buzzwords, welche bei dieser Rubrik auf thegap.at zu intensiver Schnappatmung führen. Besonders beliebt: »Produziert von Moses Schneider und Jens Rachut.« Selbiges trifft auf die bislang in dieser Konstellation noch nicht wahnsinnig intensiv in Erscheinung getretene Hamburger Wave-Punk-Kapelle Tauben zu, die sich für ihr Debüt nicht lumpen lässt und ganz viel Punk-Credibility an die Regler lässt. Das zahlt sich natürlich direkt aus: Ihr bislang einziger vor dem Album veröffentlicher Track »Kiosk« ist direkt ein starker Hit. Wer gerne an Keine Zähne im Maul, aber La Paloma pfeifen denkt, dürfte sich gleich einmal verlieben: Starker Text zwischen Kritik und Nonsense (»Viele Menschen heißen Kiosk / Doch es kennt sie keiner / Denn sie bleiben immer in den Häusern«) und musikalisch eine etwas wavigere Version von Turbostaat. Wozu all die Vergleiche? Nun ja, viel weiß man über die Band noch nicht. Nur eben Hamburg, Wave-Punk, mittelalt und so circa all die Vergleiche. Aber das ist ja schon mal nicht schlecht.
»Bis ans Ende der Schäbigkeit« von Tauben erscheint am 22. November 2024 via Major Label/Misitunes. Keine Ö-Termine. Album hier kaufen.
Außerdem erwähnenswert:
Die Jugend von Gestern – »Die Jugend von Gestern«
(VÖ: 27. November 2024)
Das sympathische Indie-Label My Favourite Chords hat alle Hände voll zu tun: Nach dem Release von Lyschko im Vormonat, veröffentlicht nun die Dortmunder Newcomer Die Jugend von Gestern dort ihr Debütalbum. Darauf hört man wunderbaren Indie-Rock amerikanischer Schule und vertrackt-verwobene Texte Hamburger Schule, welche das Duo genau dort zwischen Noise und Pop platziert, wo die ganze Schönheit ist, in den Versatzstücken zwischen High und Low. Hier kaufen.
Edwin – »Garten Österreich«
(VÖ: 8. November 2024)
Dass Edwin ein Fan Spiras ist, dürfte schon im Albumnamen ausreichend kommuniziert sein, auf den Songs geht’s dann noch mehr um die Alltagsg’schichten in der Hauptstadt, Westbahnstraße, Spittelau, Gartenbaukino, Gumpendorfer Straße, ein Mann wie Google Maps. Seine Austropop-Hits – im wahrsten Wortsinne – sind gar nicht schlecht oder wie Kollegin Mira Schneidereit in der neuesten Ausgabe von The Gap meint: »[ein] Upbeat-Album mit chilligen Vibes, die uns noch einmal in Sommerlaune versetzen und Lust auf eine Citybike-Rundfahrt auf der Donauinsel machen.« Zuerst noch hier Album kaufen.
Die bisherigen Veröffentlichungen von Dominik Oswalds Reihe »Muttersprachenpop« finden sich unter diesem Link.