Deutschsprachiges zwischen Euphorie und Kapitulation, zwischen Pathos und Befindlichkeit. Ausgewählt von Dominik Oswald. Die wichtigsten deutschsprachigen Neuerscheinungen im September 2023. Mit SarahBernhardt, Die Zärtlichkeit, Kobrakasino, Östro 430, Captain Planet und mehr.
Die Zärtlichkeit – »Heimweh Meisterwerke«
Erweckungserlebnisse musikalischer Natur, nach denen man uneingeschränkte Sympathien für eine Gruppe oder einen Artists hegt, können mehrerlei Gestalt haben: der erste gehörte Song, das erste erlebte Konzert, beim ersten Kuss läuft die Nummer im Hintergrund. Bei Die Zärtlichkeit – man kann es sich schon denken – ist es bereits der Name, der begeistert. Und um vermeintliche Peinlichkeit zu vermeiden, leitet die Band ihn auch noch schön von Dostojewski her. Starkes Ding! Dass da musikalisch ebenfalls einiges dahintersteckt, ist nur folgerichtig. Bereits die ersten beiden EPs aus dem 20er-Jahr – die Kölner sind natürlich eine Band der Pandemie – waren gut, das Debütalbum ist feinste Seide: Dreamy und gleichsam schmissiger Jangle-Pop. Die deutschen The Smiths! Kann man das sagen? Jedenfalls: keine Berührungsängste mit Romantik und sowieso nicht mit dem großen Pathos. Auch keine Spur von Übersteuern und Abkippen ins Kitschig-Banalromantische, sondern schon beständig auf der guten Seite und daher ohne Einschränkung und immer und überall feierbar.
»Heimweh Meisterwerke« von Die Zärtlichkeit erscheint am 8. September 2023 bei Tapete Records. Aktuell keine Konzerttermine für Österreich. Das Album ist hier erhältlich.
Kobrakasino – »Sonne, Mond & Dynamit«
Wenn auf einem Album, einem Debüt noch dazu, jeder Song anders klingt und abzüglich Stimme jedes Stück von einer anderen Gruppe sein könnte, ist man schnell einmal beim despektierlichen Begriff der Beliebigkeit. Positiver und im Fall von Kobrakasino aus Graz bzw. Wien auch richtiger Formulierende würden im musikalischen Kontext eher von Rastlosigkeit, Verspieltheit oder Variantenreichtum reden, denn der Dreier hat schon was auf dem Kasten. Die zehn Stücke auf »Sonne, Mond & Dynamit« sprühen nur so vor Spielfreude. Dass da an der einen oder anderen Stelle recht dick aufgetragen wird, in beide Richtungen nämlich – in die melancholische und in die euphorische – und dass da manchmal recht exzentrisch vorgetragen wird, schadet dem flackernden, halligen Indie-Pop nicht, sondern trägt zu einem sehr sympathischen Debüt bei. Inhaltlich geht’s fast zwangsläufig ums Überleben in der Großstadt, um After-Hours, Enttäuschungen und was es sonst noch gibt in diesen Gürtelnächten.
»Sonne, Mond & Dynamit« von Kobrakasino erscheint am 22. September 2023 bei Problembär Records. Konzerttermine: 18. Oktober, Wien, Flucc — 25. Oktober, Graz, Orpheum. Das Album ist hier erhältlich.
SarahBernhardt – »Urlaub in Sepia«
Passend zum Ende der Urlaubssaison veröffentlicht die österreichische Folk-Sensation SarahBernhardt ihr zweites Album. So vertonen Bernhard Scheiblauer und Sarah Metzler mit der vielbeschäftigten Sigrid Horn wie bereits auf dem recht umjubelten Debüt »Langsam wiads wos« häufig melancholische Erinnerungen an scheinbar bessere Tage, an denen vieles einfacher schien. Das mag auch an der an sich eher einfachen und strikten Instrumentierung mit gezupften Saiten liegen, die zumindest musikalisch an ein altes Wien erinnert. Mehrstimmig wird erzählt von Sand, Meer und immer wieder vom befreienden Tanzen, von italienischen Designern, vom Endlich-wahrhaben-Können und – besonders charismatisch – von einer verlassenen Gaststätte (»Unsa Gosthaus is valossn«) und davon, was sich mit so einer denn anfangen ließe. Melancholie, Tragik und Dramen spielen sich alle im Kleinen ab, lassen aber natürlich Rückschlüsse auf das Große zu. Unter anderem: Mit Musik geht alles leichter. Mit so einer erst recht.
»Urlaub in Sepia« von Sarah Bernhardt erscheint am 8. September 2023 bei Medienmanufaktur Wien. Konzerttermine: 9. September, Prigglitz, Prigglitz prickelt — 15. September, Zwischenwasser, Hägi Wendls — 16. September, Andelsbuch, Kulturverein Bahnhof — 23. September, Wels, Alter Schlachthof — 26. September, Wien, Bockkeller — 7. Oktober, Weyer, Egererschloss — 7. Dezember, Wien, Stadtsaal. Das Album ist hier erhältlich.
Östro 430 – »Punkrock nach Hausfrauenart«
Weil wir uns natürlich auch dem Bildungsauftrag verpflichtet fühlen, hier eine kleine Einführung in den Themenkomplex Östro 430: Als sich Ende der 1970er ausgerechnet Düsseldorf zum Epizentrum schmutziger deutschsprachiger Gitarrenmusik herauskristallisierte, war das eine ziemliche Würstchenpartie. Als eine der wenigen nicht-männlichen Punkkapellen waren Östro 430 deshalb gleich einmal geothert und bekannt wie bunte Hunde: Bravo, Fernsehen und all die Medien der Vergangenheit. Im Jahr der Apokalypse 1984 folgte aber die Auflösung. Der Vierer veröffentlichte erst 2020 wieder, zuerst auf Cover-Samplern für Rio Reiser und Stoppok. Das eigene Best-of »Keine Krise kann mich schocken« traf dann endgültig einen Zeitgeist, was wohl – wie so oft – Lust auf neue Musik machte. Und so erscheint nun, 39 Jahre nach der Auflösung, neues Material, bei dem es gegen alte Männer, Klugscheißer und sowieso um »Fick das System« geht; mit einem erstaunlich nahbaren Sound, der eher an Family 5 als an superklassischen Punk erinnert. Gute Scheibe!
»Punkrock nach Hausfrauenart« von Östro 430 erscheint am 1. September bei Tapete Records. Aktuell keine Konzerttermine für Österreich. Das Album hier hier erhältlich.
Captain Planet – »Come on, Cat«
Während dir Marvel, DC und wie das ganze Zeug auch immer heißt gefühlt im Monatstakt neue Superheld*innen oder neue Abenteuer altbekannter Superheld*innen in die Hirnwindungen schmeißen wollen, haben sich die Hamburger Emo-Indie-Punk-Heroes Captain Planet ziemlich rar gemacht: Vor bereits sieben Jahr erschien das letzte Album »Ein Ende«, das letzte Konzert gab’s direkt vor der Pandemie. Eine Menge Zeit also, um sich über Dinge Gedanken zu machen, sie in Songs zu gießen – um doch musikalisch und auch textlich wieder dort anzuknüpfen, wo die Gruppe aufgehört hat: Persönliche, teils fatalistische, aber zumindest pessimistische nahegehende Texte, die sich nicht großartig um den Zeitgeist kümmern, treffen auf musikalisch recht klassischen Emo-Indie der amerikanischen 90er – und das ist beileibe keine schlechte Nachricht. Captain Planet gelingt das Comeback zumindest künstlerisch auf voller Linie!
»Come on, Cat« von Captain Planet erscheint am 8. September beim Label Zeitstrafe. Aktuell keine Konzerttermine für Österreich. Das Album ist hier erhältlich.
Außerdem erwähnenswert:
Rosi Spezial – »Katza Jazz«
(VÖ: 29. September)
Vorarlberg gilt vermutlich ob des Dialekts nichts gerade als Pop-Wunderland. Da trifft es sich ganz gut, dass Rosi Spezial gar nicht in die typische Systematik von Popmusik passen, es ist tatsächlich eine Mischung aus Free Jazz, Experimental oder Avantgarde-Volksmusik. Aber vermutlich ist die Katalogisierung allen Hörenden selbst überlassen. Die fünf Stücke auf dem zweiten Album sind zwischen elf Minuten und einer halben Minute lang – genauso abenteuerlich also wie der Sound. Aber auch ziemlich gut. Interessant!
Fortuna Ehrenfeld – »Glitzerschwein«
(VÖ: 8. September)
Die Band um Martin Bechler, die Frontsau im Pyjama, ist so etwas wie die perfekte Lieblingsband: hoher Output, Musik sowieso top, Texte zum Auf-die-Oberschenkel-Tätowieren, man gönnt ihr sogar TV-Auftritte – wie in der wunderbaren Serie »Andere Eltern«. 2022 kam mit »Solo« ein Klavieralbum raus. Heuer wird es beim achten Album in acht Jahren wieder ein bisschen poppiger und tatsächlich unverkennbar Fortuna Ehrenfeld – die Stücke könnten auch schon auf dem Debüt gewesen sein. Und wie die Popgeschichte zeigt, ist das ein gutes Zeichen. Top!
Molden & Seiler & das Frauenorchester – »De zwidan Zwa«
(VÖ: 15. September)
Sie liegt auf den ersten Blick nicht völlig auf der Hand, spätestens beim dritten Gedankengang erweist sich die Kombination der österreichischen Popstars Ernst Molden und Christopher Seiler (of Seiler-&-Speer-Fame) allerdings als durchaus schlüssig. Eint die beiden doch die Liebe zur Sprache ihrer Herkunft sowie jene zum zum Kulturgut erhobenen Klischee des Beisls. Weshalb vor allem die erste Single »I sauf« Sinn macht, die Molden-Hooligans schon von dessen 2008er-Cover-Album »Foan« kennen. Viel mehr weiß man noch nicht, aber man kann davon ausgehen, dass es sicher nicht schlecht sein wird.
Die bisherigen Veröffentlichungen aus Dominik Oswalds Reihe »Muttersprachenpop« finden sich unter diesem Link.