Muttersprachenpop – die wichtigsten Veröffentlichungen im November 2021

Deutschsprachiges zwischen Euphorie und Kapitulation, zwischen Pathos und Befindlichkeit. Ausgewählt von Dominik Oswald.

Die Zimmermänner © Elliot Blunck
© Elliot Blunck

Kay Shanghai – »Haram«

Kay Shanghai © Patrick Zajfert
Kay Shanghai © Patrick Zajfert

All jenen handgezählten Neunundvierzig, die Anfang September beim Wiener Gastspiel des Sängers Dagobert dabei waren, dürfte der Support-Act in Erinnerung geblieben sein: Mit seiner ekstatischen, teilweise dem Fremdscham nicht abgeneigten Mischung aus Balla-Balla-Beats, Hip-Hop und vor allem Schlager ist Kay Shanghai definitiv eine besondere Erscheinung. Wenn auch noch Texte wie »Ich seh’ Schwänze seit der Schulzeit / steh’ auf Schwänze seit der Schulzeit« (aus, natürlich: »Schwänze seit der Schulzeit«) plakativ Heteronormatismen sämtlicher zitierter Genres auf die Probe stellen, weiß man umso mehr, dass es mit dem Debüt »Haram« ein polarisierendes Album zu bestaunen gibt. Aber: Es ist durchwegs sehr spannend, was der Mann fabriziert, der laut seiner Biografie gar überall gewohnt hat und seit fünfzehn Jahren den Essener Schuppen Hotel Shanghai leitet, in dessen After-Hours auch die ersten Demos für »Haram« entstanden. Fazit: Muss man sich trauen zu hören, entlohnt aber auch.

»Haram« von Kay Shanghai erscheint am 26. November 2021 via Hotel Shanghai Records. Keine Österreich-Termine.

Veranda Music – »Unter Einfluss«

Veranda Music © Veranda Music / Staatsakt
Veranda Music © Veranda Music / Staatsakt

Wenn eine eigentlich englisch singende Band auf das Deutschsprachige umsattelt, ist das immer ein bisschen Dings. Veranda Music, die nur schwer zuordenbare Gruppe aus Hamburg, die bereits im Spannungsfeld des Indie-Pops vier elektrisierende Alben veröffentlichte, macht auf Nummer Fünf aber etwas ganz Besonderes: »Unter Einfluss« ist nämlich ein Hommage-Album an den 1996 verstorbenen Tobias Gruben, seines Zeichens legendäre Figur der frühen Hamburger Schule mit seiner ebenso legendären Gruppe Die Erde. Nachdem bereits im Vorjahr der Film »Die Liebe frisst das Leben – Tobias Gruben, seine Lieder und die Erde« mit zahlreichen Coverversionen von Messer bis Tom Schilling aufgeführt wurde, befinden sich auf »Unter Einfluss« mehrere Lieder, die Gruben geschrieben hatte, teilweise zusammen mit aktuellen Mitgliedern von Veranda Music. Das Ergebnis sind neun Stücke – auch von anderen Textern –, die mit meist sanft wabernder Musik das Zwischenmenschliche im Kleinen suchen, Lebensgeschichten schreiben und die große Poesie im Popsong finden. Stark!

»Unter Einfluss« von Veranda Music erscheint am 26. November 2021 via Staatsakt/Bertus/Zebralution. Keine Österreich-Termine.

Wolfgang Müller – »Die Nacht ist vorbei«

Wolfgang Müller © Fressmann
Wolfgang Müller © Fressmann

Sehen wir der Wahrheit ins Auge: Ein guter Skandal in der Popmusik erhöht die Aufmerksamkeit für die involvierten Künstler*innen. Manchmal ist aber das Fehlen ebenjener genau das: ein Skandal. Auch das immer noch sehr gute letzte Album von Wolfgang Müller »Die sicherste Art zu reisen« aus dem Jahr 2018 hat dem Songwriter und Labelbetreiber (»Fressmann«) nicht den ganz großen Durchbruch gebracht. Auch der nun erscheinende, bereits siebente Langspieler »Die Nacht ist vorbei«, der über Crowdfunding mit dann doch treuer Fanbasis finanziert wurde, ist wieder ein wunderbares Stück Musik geworden. Mit langgezogenen Zeilen wie  »Mit Gedanken wie ein Groschenromandetektiv, der die Welt durch zwei Löcher in der Zeitung sieht / Ist da ein Wunsch, am Ende doch noch zu verstehen, was da wirklich ist, hinter all den Buchstaben« (aus: »Blickfeld«) und dem gewohnt melancholisch-virtuosem Akustik-Gitarrenspiel ist es wieder ein Album zum Zuhören geworden, zum Zurücklehnen und Schwelgen.

»Die Nacht ist vorbei« von Wolfgang Müller erscheint am 19. November 2021 via Fressmann. Noch keine Österreich-Termine.

Die Zimmermänner – »Goldene Stunde (alle Hits 1980-2017)«

Die Zimmermänner © Elliot Blunck
Die Zimmermänner © Elliot Blunck

Vorweihnachtszeit ist Geschenkezeit ist Compilationzeit. Wie gut, dass die Hamburger Outsider-Pop-Institution Die Zimmermänner über jeglichen kommerziell motivierten Vorwurf erhaben ist: Schließlich scheint nun ihre erste und – wenn man sich ehrlich ist – längst überfällige Best-of-Platte, die einen zeitlichen Querschnitt bietet über die Arbeit von Detlef Diederichsen und Timo Blunck, welche der deutschen Musiklandschaft mehr Stempel aufdrückten als ein durchschnittlicher Türsteher an einem ganzen Wochenende Teenie-Hände vollschmiert. In zum Glück nicht chronologischer Reihenfolge gibt es einige Stücke aus der Frühphase – die ersten beiden Alben »1001 Wege Sex zu machen ohne daran Spaß zu haben« und »Goethe« haben Kultstatus – sowie auch aus der zweiten Veröffentlichungsphase ab 2007 mit den Alben »Fortpflanzungssupermarkt« und »Ein Hund namens Arbeit«, auf letzterem befindet sich mit »Die große Sporadische« der vielleicht beste Song (Achtung: steile These!). Wobei: Super sind sie alle, die Stücke auf »Goldene Stunde (alle Hits 1980-2017)«, umsonst gibt’s den Zusatz ja nicht.

»Goldene Stunde (alle Hits 1980-2017)« von Die Zimmermänner erscheint am 12. November 2021 via Tapete Records. Keine Österreich-Termine.

Girlwoman – »Das große Ganze«

Girlwoman © Lea Bräuer
Girlwoman © Lea Bräuer

Wenn im Ankündigungstext des geschätzten Staatsakt-Labels für das Debüt-Album von Girlwoman von »somnambulen Rave« spricht, trifft das so ziemlich den Nagel auf den Kopf: »Das große Ganze« der Bielefelderin(!) bietet nämlich das gesamte Weltall an spacigem, elektronischen Pop, der sich für diese verdammten melancholischen schlaflosen Nächte eignet, für dieses Verlorensein im Neonlicht der Großstadt, ihr Pulsieren als Herzrhythmusstörung. Besonders spürt man das vermittelte Feeling bei ihren Singles »Rote Riesen schlafen nicht« oder »Prisma«, die mit sanften Beats und klarer Stimme in die Nacht rufen. Apropos Beats, die kommen vom Drum Computer, die Synthesizer sind analog, das stellenweise gehörte Orchester aus Streichern wurde mit gestapelten Spuren einer einzelnen Geige und Bratsche aufgenommen. »Das große Ganze« klingt nach ganz großer Popwelt, ist aber dann doch sympathisch Home made. Sehr cool!

»Das große Ganze« von Girlwoman erscheint am 5. November 2021 via Staatsakt/Bertus/Zebralution. Keine Österreich-Termine.

AUSSERDEM ERWÄHNENSWERT:

Stereo Total»Chanson Hystérique«

(VÖ: 5. November 2021)

Der tragische Tod von Françoise Cactus im Februar dieses Jahres war nicht nur für den deutschsprachigen Pop eine Tragödie. Nun erscheint eine Werkschau der ersten zehn Schaffensjahre mit insgesamt sieben Alben, von »Oh Ah« aus dem Jahr 1995 bis hin zu »Do The Bambi« von 2005, an dem Cactus bis zuletzt noch gearbeitet hatte. Neben der unbestritten sagenhaften Musik verdient auch das Begleitmaterial mehr als nur Beachtung – ein Buch mit Bildern von Cactus gibt der Werkschau den passenden Rahmen.

Van Holzen»Aus der Ferne«

(VÖ: 12. November 2021)

Ulm ist ja an sich nicht eher der Nabel der Rockwelt, die Anfangzwanziger Van Holzen sind aber zumindest so etwas wie das Bauchnabelpiercing Ulms. Bereits auf den beiden Vorgängern »Anomalie« (2017) und »Regen« (2019) exerzierten sie für ihre Sprache eher untypischen Alternative Rock mit großen Vorbildern, auch auf Album Nummer Drei bleiben sich die Drei treu und versetzen ihren Sound nur ab und an mit Indie-Rock und Pop, die Texte: Angst, Zweifel, Wut. Hier weiß man, was man bekommt. Was ja an sich nicht schlecht ist.

Gewalt – »Paradies«

(VÖ: 5.11.2021)

Es gibt Dinge, die dürfte es eigentlich nicht geben: Ein Langspieler der Gruppe Gewalt etwa, die bislang strikt nur Singles veröffentlichte. Auf dem Debüt finden sich daher konsequenterweise sowohl bereits bekannten Stücke, als auch extra für das Album geschriebene. Hier findet sich mehr dazu.

Die bisherigen Veröffentlichungen von Dominik Oswalds Reihe »Muttersprachenpop« finden sich unter diesem Link.

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