Klassensprecherwahl in der Twitter-Blase

Es geht ums Rechthaben, ums Schnellsein und am meisten geht es darum, wer der Lustigste ist. Twitter ist in Österreich wie eine Schulklasse.

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Sonntagabend, es läutet zu »Im Zentrum«. Der Herr Fessa @HubertSickinger suppliert heute, weil @ArminWolf den Buchstabentag vorbereiten muss. Geschickt weicht er den ausgestreckten Fingern von @georg_renner aus, der etwas zu leidenschaftlich aufgezeigt hat. Ob er dieses Mal wieder Tafelordner sein darf, will er wissen. Sickinger gibt ihm den Schwamm und er beginnt eifrig zu löschen während @rudifussi seine Technik dabei kritisiert und @LugarRobert versucht, ihm das Heft aus der Tasche zu ziehen.

Der Schorsch Renner macht nämlich immer alle Hausübungen, lässt aber andere nur für Geld einen Blick auf seine Arbeit werfen. @josefbarth schaut verträumt aus dem Fenster. Fenster mag er nämlich, weil sie so transparent sind. So. Wer fehlt? @NikoAlm ist beim Direktor, weil er im Stiegenhaus Skateboard gefahren ist, @GeraldLoacker entschuldigt, weil er der Theatergruppe Fashiontipps gibt und @HansArsenovic hat sich beim Schulwart einen Passierschein geholt, angeblich, weil seine Oma 90 wird, aber eigentlich will er nur zum Rapid-Match.

#nichtallesbrauchthashtag

Der @KlausSchwertner ist auch nicht da, weil er das Geld für die Ziege einsammelt, die die Klasse im Rahmen eines Charity-Projekts einer Familie in Uganda kaufen will. @rudifussi kritisiert, dass man sich nicht für eine Kuh entschieden hat, die gebe doch mehr Milch. @HubertSickinger seufzt. Eigentlich wollte er doch schon längst Stoff machen. @AlfredHoch @svejk haben heute Referat über Social Media und werfen den Overhead Projektor an. @PaulTesarek und @teamkanzler schreiben eifrig mit.

@volkerpiesczek lernt das Handout mit dem Titel »Der Hashtag« auswendig, nachdem er darauf aufmerksam gemacht wurde, dass er nicht jeden Tweet mit #volkerpiesczek versehen muss und @SimonTartarotti, der sowieso keinen Tag beginnt, ohne die Kollegen von der @oevpwien mit Kreide zu bewerfen, lacht so laut, dass er zur Beruhigung auf den Gang geschickt werden muss. @rudifussi kritisiert inzwischen, dass das Handout in Comic Sans geschrieben ist. Es läutet. @HubertSickinger seufzt befreit und schreibt @SimonTartarotti und @rudifussi was ins Mitteilungsheft.

Nächste Stunde ist Turnen mit @fatmike182. Die @oevpwien hat ihr Turnsackerl vergessen und kann deshalb nicht beim Felgaufschwung mitmachen. @michelreimon quittiert das mit einem lauten »Oida!«. Das hat er von @sarahas_san gelernt. Die zwei sind jetzt BFFs. @TomMayerEuropa behauptet, er sei bei der Entwicklung des Felgaufschwungs in der ersten Reihe dabei gewesen. @HCStracheFP rutscht beim Völkerball auf dem linken Bolschewiken-Jojo von @florianklenk aus, fängt an zu weinen und nennt alle, die bei drei nicht auf der Sprossenwand sind, »linke Hassprediger«.

@rudifussi spricht sich gegen die Schwerkraft aus, gegen Sprossenwände, gegen HC Strache und gegen Bolschewiken-Jojos. @fatmike182 schickt alle drei zum Direktor, wo auch schon @vilimsky sitzt und auf den Schulpsychologen wartet, weil er im Schulhof einen Graben rund um sich selbst ausgehoben hat, weil Wirtschaftsflüchtlinge aus Kärnten in seiner Bande mitmachen wollten.

Klassensprecherwahl

Anschließend ist noch Klassensprecherwahl. Klassenvorstand @ArminWolf verteilt die Stimmzettel. Aufstellen ließen sich @MartinThuer, @sigi_maurer, @tho_weber und natürlich @TomMayerEuropa, der laut eigenen Angaben auch bei der Entwicklung der Demokratie eine tragende Rolle gespielt hat. @Helge kritisiert die voreingenommene Wahlberichterstattung in der Schülerzeitung und postet das auf seiner Myspace-Seite, die er jetzt #Kobuk nennt. @MD_Franz fragt, wann endlich der bürgerliche Adel wieder etwas im Schulgemeinschaftsausschuss zu melden habe.

@th_weber stellt zum tausendsten Mal klar, dass er nicht @tho_weber ist und überhaupt nicht kandidiert und schließlich gewinnt überraschend @stefan_petzner, obwohl der gar nicht auf der Liste stand. @georg_renner sagt, das habe er schon vor Wochen vorausgesagt, @TomMayerEuropa sagt, er habe @stefan_petzner erfunden und geht sich googeln. Volker Piszeck nur so: »Haha. #volkerpieszek« und kriegt dafür neun Sternderl. Schade, denn schon ab zehn Sternderl kriegt man ein Plus mit Welle und wird vielleicht von @ArminWolf retweetet. @stefan_petzner bedankt sich für die Wahl. Er habe ja der Politik abschwören wollen, wolle aber sein Mandat für die einzige Sache nutzen, für die es sich noch zu kämpfen lohne, nämlich das Lebenswerk von Udo Jürgens zu promoten. @ArminWolf lässt das zu und dankt allen, dass sie bei seiner Klassensprecherwahl mitgemacht haben. Es läutet. Unterrichtsschluss. Morgen ist ein neuer Tag und sie werden alle wieder dabei sein.

#ff auch an den Rest der Klasse:

@BarbaraKaufmann @bakhall @Peter_Pilz @pawko @JBruckenberger @heimolepuschitz @OliverPink1 @derSchett @mic_ung @Kosak_Daniel @RablPeter

KASTEN

Dem Verlauf des Wiener Wahlkampfs oder auch einer ganz normalen Fernsehdiskussion in der Twitter-Blase können herkömmliche Artikel schwer gerecht werden. Was dort passiert, interessiert nicht allzu viele Menschen. Aber es beeinflusst, wie Storys gedreht werden und wie Medien funktionieren. Die Protagonisten in der Bubble sind schillernd und vielschichtig. Menschen, die draußen vielleicht niemals Freunde sein werden, scherzen dort miteinander, lassen sich auf ein spielerisches Kräftemessen ein und bilden auf gewisse Weise ein abgeschlossenes System, eine Art In-Crowd, für deren mehr oder weniger kluge Thesen und Aufreger man sich anderswo herzlich wenig interessiert.

Die Twitterblase hat ihre Rüpel, ihre Streber und Angeber, die dort tagtäglich miteinander streiten. Und es ist wichtig, dass sie streiten, denn neben dem hohen Unterhaltungswert dieser Gespräche und Zänkereien ist die lustvolle Auseinandersetzung miteinander und mit der österreichischen Innenpolitik gewinnbringend für jeden, der daran teilnimmt. Aber die Wiener Twitteria ist auch wie eine überfüllte Schulklasse, die täglich die klassischen Rollenbilder einer solchen wiederaufführt. Sie bildet Hierarchien – was man schon daran merkt, dass man viele Leute, denen man nie die Hand geschüttelt hat, dort bereits duzt, jedoch etwa den Politikwissenschaftler Hubert Sickinger instinktiv weiterhin mit »Sie« anspricht.

Wer sich Konflikten hier nicht stellt, wer nicht klar Position bezieht, hat keine Chance. Es herrscht das Gesetz des Dschungels. Ebenfalls wie bei einer Schulklasse gibt es aber Kräfte der Selbstregulierung, die Ordnung schaffen, wenn jemandem laufend unrecht getan wird, oder sich jemand zu oft daneben benimmt. Machen wir also einen kleinen Ausflug in die Reihen der Twitter-Klasse. Wer den Witz nicht versteht, kann ja drüben in der Bubble auch mal ein bisschen die Schulbank drücken.

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