Der US-Seriensensationserfolg „Glee“ läuft jetzt auch im deutschsprachigen Fernsehen. Eine kurze Einführung in die faszinierenden Widersprüche der sarkastisch-seifigen High School Musical Serie.
Jetzt ist es also im deutschsprachigen Free-TV angekommen: „Glee“, das erstaunlichste Massenphänomen des US-Serienfernsehens seit „Lost“. Die in den USA enorm erfolgreich gestartete Dramedy-Serie über den Sing- und Tanzclub der McKinley High School ist seit vergangener Woche jeden Montaghauptabend im kinderfokussierten Programm von Super-RTL zu sehen – direkt nach der Disney-Sitcom „Die Zauberer vom Waverly Place“. Und der populistische Genius von „Glee“ will es, dass die von Ryan Murphy („Nip/Tuck“) mitkreierte Serie dort auf gewisse Weise genauso plausibel hinpasst, wie letzten Frühling aufs Cover des Rolling Stone oder in einen Spex-Artikel zusammen mit „Breaking Bad“. Und das ist noch nicht mal der verblüffendste Spagat dieser Produktion des Glenn Beck-Heimsenders Fox, die so daherkommt, als hätten die Macher der Dressurshow „American Idol“ im Auftrag der Obama-Administration Drehbücher aus dem Nachlass von Teenieversteher John Hughes verfilmt.
8.00-8.50: Politische Bildung
Ausgangspunkt ist, wie in so vielen Adoleszenzdramen, die High School als Testgelände gesellschaftlicher Rollenzuweisung: An der McKinley High kommt das rigide Kastenwesen zwischen Cheerleaders und Streberinnen, beliebten jocks und an den Rand gedrängten misfits nachhaltig durcheinander, als Spanischlehrer und Strahlemann Will Schuester (Matthew Morrison) den „Glee Club“ seiner Jugendjahre wiedereröffnet. Die Sing- und Tanz-Gemeinschaft mit dem obamaesken Namen „New Directions“ wird zum Sammelbecken für Ausgegrenzte wie den vor dem Coming Out stehenden Stilexperten Kurt (Golden Globe-ausgezeichnet: Chris Colfer), die schrill überambitionierte Rachel (Lea Michele) oder den querschnittgelähmten Artie (Kevin McHale). Wenn in der Pilotfolge sogar Footballspieler Finn in den geächteten „Glee Club“ wechselt, dann durchlöchert der Gesangsverein überhaupt die Unterscheidung zwischen Gewinnern und Verlierern, die das ewige Herzstück wirtschaftsliberal-gesellschaftskonservativer US-Ideologie ausmacht. Während Schuesters Widersacherin, die erzrepublikanische Cheerleader-Ausbilderin Sue Sylvester (Bombenrolle für die immer großartige Jane Lynch), ihren Elevinnen eiserne Disziplin predigt, legt er den Pubertierenden Freude an musikalischer Selbstentfaltung nahe.
Aber – und erst das macht „Glee“ wirklich schillernd – so einfach funktioniert diese Frontstellung im Sinne US-amerikanischer Culture Wars natürlich nicht: Den ambitionierten Ensemble-Choreografien zu alten Showtunes und aktuellen Charthits sieht man die notwendige Leistung und Unterordnung der Einzelnen permanent an. Mehr noch: Die ganze erste Staffel wird dramaturgisch zusammengehalten von einem überregionalen Chor-Wettbewerb, an dem „New Directions“ teilnimmt, und für den es ein (mentales/ institutionelles/ personelles) Hindernis nach dem anderen aus dem Weg zu räumen gilt. Gegen die ganz und gar unproduktiven Außenseitergemeinschaften und Zufallsallianzen etwa in der famosen Highschool-Serie „Freaks and Geeks“ (1999-2000; zu deutsch: „Voll daneben voll im Leben“) wirkt dieser zielstrebig trainierende „Glee Club“ einigermaßen spießig (und Schuesters Mantra von der Arbeit am Selbst verdächtig nach „Business Punk“-Manager-Sprech). Vermutlich ist aber gerade das Spießige an dieser Vergesellschaftung – Institutionalisierung und mittelfristige Zielorientierung – inzwischen auch politisch wesentlich spannender als die Freude am unverbindlichen Herumdriften.
08.55-09.45: Wirtschaftskunde
Weil bei „Glee“ Selbstentäußerung immer schon nahe liegt, ein Geständnis: Es gibt Dinge an dieser Serie, die halt ich nur in kleinen Dosen aus (dazu gleich mehr). Aber als exemplarisches Objekt einer US-Popkultur circa 2010 könnte ich „Glee“ stundenlang anstarren. Faszinierend ist schon die Wertschöpfungsökonomie der Serie, die sich in den zerbröckelnden Verwertungsketten von Fernseh- und Musikgeschäft geschäftstüchtig eingerichtet hat: Die Gesangseinlagen jeder Sendung sind noch in der Erstausstrahlungswoche per iTunes erhältlich, in Drehpausen rückt das Ensemble auf landesweite Konzerttourneen aus. Für die bereits abgedrehte zweite Staffel legten Labels den Serienmachern gleich Vorablisten mit geplanten Singles ihrer größten Stars zur Auswahl vor, auf dass die Synergie noch reibungsloser laufen möge.
Eine eigene Casting-Show, die neue Darsteller für Staffel Zwei rekrutieren sollte, fand dann nach einiger Planung letzten Sommer doch nicht statt. Das alltagskulturelle Fundament, auf dem „Glee“ aufbaut, bilden freilich genau solche TV-Castingformate (paradigmatisch der Fox-Überhit „American Idol“) – unter anderem: Es lassen sich vermutlich mehrere Diplomarbeiten mit der Untersuchung füllen, an welche medialen Phänomene der jüngeren Gegenwart „Glee“ erfolgreich anzapft, von Showbiz-Märchen à la Susan Boyle und Disneys Popsternchen-Fließband mit „High School Musical“-Schwerpunkt bis zu Tanzfieber und Choreografierlust in Internetvideos.
10.00-10.50: Musikerziehung
Das eigentliche Faszinosum an „Glee“ ist aber der Tonfall: Da die Serie sich eben nicht allein auf die Klientel der Susan Boyle-CD-Sammler und in die Pubertät kommenden Zac Efron-Fans verlassen will, steuert sie dem offenherzigen (und musikalisch diskussionswürdigen) Pathos der Gesangseinlagen mit einer ziemlich herben Komik entgegen. Ergebnis ist ein sehr gezielter Slalom zwischen Seifigkeit und Häme: als müsste das eine ständig durch das andere auf Armeslänge gehalten werden, damit die sophistizierten Comedy-Fans ihrer verkappten Musical-Liebe frönen und die Blümchenmusterromantiker ihre eigenen Phantasien verlachen können.
Gegen die aufwändig wie verspielt ausinszenierten Musicalsequenzen stinkt der bemüht bissige Witz aber häufig ab. Keine Missverständnisse: Jane Lynchs Auftritte sind makellos (siehe auch die hübsche Sitcom „Party Down“, wo sie sehr witzig einen ganz anderen Typus spielt). Eher öd ist dagegen die ziemlich berechenbare Art, auf die die Serie einen ganzen Katalog von hyperkontrollierten, krankhaft verklemmten Frauenfiguren für Pointen verkauft. Dagegen sind – da ist dieser Text sehr am Punkt – das Spannendste an „Glee“ gerade die Momente, an denen Figuren ihre Emotionen schonungslos nach außen stülpen. Meine persönliche Lieblingsszene in dieser Hinsicht ist der „Safety Dance“, in den sich Rollstuhlfahrer Artie in Episode 19 in einem Einkaufszentrum hineinträumt (und, echt: die extrem kitschige, unglaublich raffiniert eingewobene Susan Boyle-„Les Misérables“-Nummer am Schluss derselben Episode). Dass soviel emotionaler Nachdruck – durchaus in Nachfolge eines klassischen Filmmusical-Idioms – ohne böses Kichern nicht mehr zu haben ist, ist die aufschlussreichste Lektion, die wir „Glee“ verdanken.
Staffel 1 läuft montags 20.15 auf Super RTL. Die erste Hälfte ist als DVD-Box (UK-Import) erhältlich.