Ruinen sind keine Cupcakes und dürfen sich trotzdem großer Beliebtheit im Internet erfreuen. Das hat mehrere Gründe, und Porno ist nur einer davon.
Klick: eine Liste der 40 atemberaubendsten verlassenen Plätze auf dieser Welt. Klick: die 30 gespenstischsten Fotos von heruntergekommenen Orten. Das Internet möchte gerne, dass du dir das anschaust. Irgendwo zwischen ur schön und voll arg ist da sicher etwas für dich dabei. Stehst du mehr auf Natur, die sich die Stadt zurückerobert, wirst du eine Myriade von efeuumrankten, moosbewachsenen, bachdurchströmten Gebäuderesten finden. Da im Hintergrund geht die Sonne unter. Der Himmel schaut als, als gäbe es einen Fotofilter namens William Turner. Stehst du mehr auf Realität und harte Fakten, werden dich heruntergekommene Industriestädte mit Nebel und Graffiti, in Grautönen präsentiert, interessieren. Und, keine Sorge, es gibt auch alles dazwischen.
Nach lustigen Katzen und liebevoll verzierten Cupcakes könnte man glauben, das Internet hätte nun kaputte oder verlassene Gebäude entdeckt, die nur darauf gewartet haben, in Form von mit Superlativen übertitelten Fotostrecken zusammen kuratiert zu werden. Hallo Industrieromantik! Manche – Fans und Gegner gleichermaßen – nennen das, was man da sieht, zeitgemäß Ruin Porn – den Hashtag darf man sich getrost dazu denken. Auf der Fotoplattform Instagram liefert er immerhin 10.000 Ergebnisse. Das ist nicht viel, doch das, was er bezeichnet, haben wir alle schon tausend Mal gesehen.
Unter allerhand Suchbegriffen – abandoned places, ruin, urbex – lassen sich Bilder von verfallenden Gebäuden in Sekundenschnelle ergooglen. Und das müssen wir nicht einmal unbedingt tun – spülen uns doch Seiten wie Distractify oder Bored Panda ohnehin Fotostrecken und Listen in die Timeline. Dass wir uns gerne von der Ästhetik des Verfalls von den alltäglichen Sorgen "ablenken" lassen, sie mitunter Pornografie – im Sinne eines Aufgeilens durch Anschauen – nennen, ist dem Zeitgeist geschuldet. Der ästhetische Genuss, den wir bei der Betrachtung von Ruinen empfinden, ist dagegen nicht neu.
Das hat doch Tradition
Denn die Faszination für Verfall und Trümmer und die Beschäftigung damit ist – sorry, Foodies – wohl doch in einer kulturgeschichtlich solideren Tradition verankert, als Cupcakes das je sein können und es verwundert eigentlich nur, dass sie sich erst jetzt so stark im Internet breit macht. Denn Ruinen werden schon lange angeschaut, damit sie einem etwas über sich selbst erzählen. Sie sind das einfach gewohnt. Eine kleine Tour durch die Menschheitsgeschichte, ein bisschen Name-Dropping zeigen das ganz gut: Beginnend bei H wie Homer, dessen Ilias, einer der ersten schriftlich fixierten Texte, die wir haben, um die Zerstörung Trojas kreist, zu S wie Schliemann, der mit fast manischer Hingabe ebendieses Troja, oder was er dafür hielt, ausgrub und dokumentierte. Den man mit etwas Argumentationskunst vielleicht zum ersten Ruin Pornographer stilisieren könnte.
Dann G wie Goethe auf italienischer Reise und alle, die wie er – weil das eben zum guten Ton gehörte – einen Studientrip "in die Vergangenheit" machten bis zu F wie Caspar David Friedrich, dessen "Wanderer über dem Nebelmeer" auf dem Cover so beseelt in die Weite schaut. In der Romantik galt gerade die mittelalterliche Ruine als Symbol einer großen Sehnsucht – irgendwo zwischen dem nationalistisch motivierten Versuch, in der Vergangenheit Trost zu finden und einer fast religiösen und privaten Naturerfahrung.
"Anders ausgedrückt, ist es der Reiz der Ruine, dass hier ein Menschenwerk ganz wie ein Naturprodukt empfunden wird", sagte S wie Simmel Georg, der Berliner Kulturphilosoph, der mit seinem maßgeblichen Text "Die Ruine" schon 1907 zu erklären versuchte, was Trümmer in uns auslösen.
Jetzt, Gegenwart
Die Faszination für das, was andere zurückgelassen oder zerstört haben, ist etwas, das Menschen seit jeher begleitet – heute auch verstärkt im Netz. Im Moment sind es vor allem Industrieruinen, also unsere Gegenwart, die hoch im Kurs stehen, während sich der Blick früher eher in die ferne Vergangenheit richtete. Ganz einfach ist es nicht, den Finger darauf zu legen, warum Bilder von modernen Ruinen jetzt so präsent sind. Aus drei Richtungen, die sich gegenseitig aufschaukeln und dadurch immer mehr Material produzieren, weht aber zumindest ein verdächtiger Wind.
Da ist zuerst das gelegentlich illegale und oft durch Fotos dokumentierte Auskundschaften von urbanen Räumen, genannt Urban Exploration (kurz: Urbex), das wohl lange Zeit eher Freizeitbeschäftigung einer Subkultur war, aber zunehmend an Popularität gewinnt. Dabei geht es um Entdeckungsdrang, oft auch darum, etwas Verbotenes und Gefährliches auszuprobieren. Dass die Fotos, die bei den Streifzügen entstehen, gut aussehen, ist zwar auch für Urban Explorers wichtig, im Vordergrund steht aber eher die Abenteuerlust. Ganz im Gegensatz zur zweiten Quelle der Ruinenbegeisterung, die sich am Kaputten aufgeilt und den Hashtag #RuinPorn am meisten verdient hat. Neben bereits abgewetzt gekauften Jeans an den Beinen und einem Porzellanhäferl im Schrank, das wie Emaille inklusive Roststellen aussehen will, interessieren ihre Vertreter eben auch Ruinen-Fotos der Marke edgy und rough für den Pinterest-Account. Shabby Chic nennen das die Interieur- bis Modedesigner deines Vertrauens. Hier ist die Art des Verfalls – ob Textil oder Gebäude – relativ egal, es geht hauptsächlich um die Aura, die erzeugt wird. Abgewetzt, gebraucht, erprobt und abgewirtschaftet gilt als "echter" als perfektionierte Glätte – die Grenzen zwischen künstlich hergestellten Verfallsprodukten und "natürlich" gewachsenen verschwimmen ad absurdum.
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