Progressive Traditionspflege

Die sexuelle Orientierung von Frank Ocean kann egal sein, sein Debütalbum mit Sicherheit nicht. „Channel Orange“ ist eine modernes Meisterstück historisch beflissener Black Music.

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In vielerlei Hinsicht bricht das Debütalbum von Frank Ocean mit Offenbarungen auf. Zum einen eröffnet „Channel Orange“ mit der hypnotische Vorab-Single „Thinking Bout You“, die seit Herbst letzten Jahres große musikalische Erwartungen und neben weiteren Songs auch die Gerüchte um die sexuelle Orientierung des 24jährigen befördert – „Yes of course I remember, how could I forget how you feel / You know you were my first time, a new feel“. Zum anderen erinnert der Song sofort an die umnebelte R&B-Ästhetik von Drake oder The Weeknd, um bis zum Finale dieser dreieinhalb Minuten Spielzeit auch gleich wieder mit ihr aufzuräumen. Langsam schreibt sich die Falsettstimme durch den flirrenden Beat, während Frank Ocean die großen Gefühle ohne Abstraktion beim Namen nennt und in bester Soul-Manier die ewige Liebe beschwört. Vor dem geistigen Auge nicken sich indes Prince, Justin Timberlake und Pharrell Williams einstimmig zu. Hier geht es um das große Ganze.

Wohlstandsverwahrlost

Letzterer hat nicht nur den jungen Barden aus dem Umfeld von Odd Future einst musikalisch beeinflusst, sondern zudem auch die Single „Sweet Life“ mitproduziert. In einem süßlichen Slow Jam thematisiert Ocean darin die Verwahrlosung durch Wohlstand, Ignoranz und Einsamkeit gegenüber der unglamurösen Außenwelt. „Super Rich Kids“ (mit Earl Sweatshirt) übt ähnliche Kritik und ergänzt auf ähnliche Weise das musikalische Erbe von D’Angelo, dem noch deutlicher hörbaren Vorbild: die angelernte Verbindung von sanftem Jazz und trockenem Funk, wird 2012 von kleinteiligen Bass-Beats umspült und von Synthesizern verdichtet.

Das melancholische „Crack Rock“ weckt vergleichbare Erinnerungen und macht den Drogenmissbrauch in den Ghettos zum Thema. So präsentiert sich „Channel Orange“ auf allen Ebenen als eine klassische und fortschrittliche Großtat. Feinsinnig variiert Frank Ocean seine Stimme durch seinen rauschenden R&B, vertieft sich im dichten Sog seines Gesamtwerks, ohne in den einzelnen Songs jemals zu verklingen oder rührselig zu werden. So werden gesäuselter Hip Hop und verschleppter Funk etwa mehrfach mit zeternden E-Gitarren („Sierra Leone“, „Pink Matter“ mit André 3000, „Forrest Gump“) verknüpft und lassen auch dringlichen Electrofunk („Pyramids“) nicht aus der Reihe der Tracklist tanzen. Trotz der überwiegenden Tauchstimmung, greift jedes Detail seiner beschlagnahmenden Popmelodien.

Schillern

Vor kurzem hat sich Frank Ocean in einem offenen Brief auf seinem Blog geoutet. 2012 ist ein gutes Jahr für den Mainstream von Black Music. Schwul zu sein muss nun offiziell kein Tabu mehr sein. Wie viel die Geschlechtspartnerwahl wirklich mit der Musik von Frank Ocean zu tun hat, kann er letztlich nur selbst wissen und bleibt irrelevant. Die alten Helden werden nun ohnedies mühelos abgelöst (inklusive ihrer heterosexuellen Deutungshoheit). Der Sound von Frank Ocean setzt sich zwar dezidiert mit der Vergangenheit des Soul auseinander, verspricht dank seinem überbordendem Talent aber eine schillernde Zukunft für anspruchsvollen R&B.

"Channel Orange" von Frank Ocean via Def Jam ist bereits erschienen.

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